Die Karma-Kagyü-Linie wurde vor ca. 900 Jahren vom ersten Karmapa Düsum Khyenpa als eine Unterschule der Kagyü-Linie begründet. Sie trägt "Karma" in ihrem Namen eben wegen ihres Begründers, dem Buddha Karmapa. Der historische Buddha Shakyamuni war nur einer von vielen Buddhas, die in der Welt wirken. Karmapa gilt als die Manifestation der Aktivität aller Buddhas, er trägt ihren Segen und ist von ihnen untrennbar. Sein Erscheinen als ein großer Bodhisattva in dieser Welt wurde schon vor ca. 2500 Jahren von Buddha Shakyamuni vorhergesagt.
Die Kagyü-Linie begann im 11. Jahrhundert in Tibet mit Marpa, der die verschiedenen Sprachen Indiens beherrschte und dort auf drei Reisen viele Jahre verbrachte. Marpa bekam von den damaligen großen buddhistischen Meistern Indiens, den sogenannten Mahasiddhas, viele Belehrungen, Vajrayana-Ermächtigungen, Meditations-Anweisungen und ganz besondere Methoden zum Erlangen der Erleuchtung. Er übersetzte diese Lehren ins Tibetische, brachte sie nach Tibet zurück und lehrte sie dort an seine Schüler – vor allem an den berühmten Yogi Milarepa. Diese Übertragung Marpas beinhaltete zum Beispiel das Mahamudra, die Sechs Lehren Naropas und verschiedene Meditationen auf Buddha-Aspekte.
Von Marpas Hauptschüler Milarepa ging die Übertragungslinie weiter an seinen Hauptschüler Gampopa. Dessen Schüler wiederum war der erste Karmapa Düsum Khyenpa, der diese Übertragung dann an seine Schüler weitergab. Gampopa hatte neben Karmapa auch andere Schüler, die die Übertragung bekamen und diese an ihre eigenen Schüler lehrten; so entwickelte es sich, dass mehrere Kagyü- Unterlinien entstanden, mit Namen wie zum Beispiel Drukpa-Kagyü, Tsalpa-Kagyü, Karma-Kagyü usw.
Die besondere Übertragung, die in dieser Weise in der Kagyü-Linie und somit auch der Karma-Kagyü-Linie gehalten wird, besteht also aus den Belehrungen der verschiedenen Mahasiddhas Indiens, die durch Marpa nach Tibet gebracht worden waren. Ein Teil davon sind etwa ein Dutzend große tantrische Übungen, Meditationen auf Buddha-Aspekte wie Buddha Höchste Freude (tib. Khorlo Demchog) oder Oh Diamant (tib. Kye Dorje). Die Ermächtigungen und Erklärungen zu diesen Übungen sind zum Beispiel in der Sammlung Kagyü Ngagdzö enthalten, deren Übertragung auch der 16. Karmapa einige Male gegeben hatte. Ein weiterer Teil der Übertragung Marpas findet sich in einer anderen berühmten Sammlung mit Anweisungen zur Erkenntnis des Geistes: dem sogenannten Dam Ngagdzö. Die Übertragungen in diesen beiden Sammlungen sind eine Besonderheit der Kagyü-Linie und zahllose Menschen haben sie seit der Zeit Buddha Shakyamunis bis heute bekommen. Sie behielten bis heute ihre Kraft, weil sie stets auch wirklich von Menschen angewendet wurden, die sie in Meditations-Zurückgezogenheit praktizierten.
Marpa brachte zusätzlich auch das Mahamudra (tib. Tschag Gya Chenpo) nach Tibet und lehrte es seinen Schülern. Dazu gibt es nicht nur die grundlegenden Belehrungen, sondern auch viele Kommentare der indischen Mahasiddhas und der späteren tibetischen Meister. Mahamudra beinhaltet vor allem Anweisungen, um in direkter Weise auf den Geist zu meditieren. Es gibt viele Texte darüber mit verschiedenen Inhalten, aber die eigentliche Übertragung wurde üblicherweise so gegeben, dass der Lehrer dem Schüler zuerst eine Meditationsanweisung gab. Der Schüler übte diese und berichtete dem Lehrer einige Zeit später über sein in Meditation gewonnenes Verständnis. Wenn der Lehrer sah, dass dieses richtig war, gab er ihm die nächste Stufe der Praxis, und so ging es weiter.
In einigen Übertragungen gibt es mehr als 80 solcher Schritte in der Meditationsfolge. Wenn man diese übt, versucht man das richtige Verständnis zu entdecken. Man kann das aber nicht durch gewöhnliches Nachdenken finden, sondern nur in der Weise, dass es natürlicherweise durch die Meditation entsteht. Wenn man dem Lehrer davon berichtet und er bestätigt, dass man es richtig verstanden hat, wird man in die nächste Stufe der Meditation eingeführt und meditiert wieder in Zurückziehung darauf. Man ‚sucht‘ in der Meditation nicht aktiv nach den Antworten, sondern man versteht sie natürlicherweise, als Resultat der Praxis. Im Austausch mit dem Lehrer überprüft man dann, ob das erlangte Verständnis auch richtig ist.
Um diesen Vorgang zu fördern, gibt es für Fortgeschrittene geschickte Anweisungen, die im Tibetischen Dam Ngag und Men Ngag genannt werden. Dam Ngag sind Meditationsanweisungen in Form von Beispielen, Wörtern etc., die einem das Verständnis erleichtern können. Men Ngag sind ähnliche sehr spezielle Anweisungen, die aber nirgendwo aufgeschrieben sind, sondern einem nur direkt persönlich vom Lehrer gegeben werden. Solche Anweisungen sind Teil der Mahamudra-Praxis, und wenn man einen Geschmack davon bekommen möchte, so findet man Ähnliches im Buch "Grenzenlose Weisheit" von Shamar Rinpoche. Shamarpas Meditationsanweisungen wirken beim ersten Lesen sehr einfach, wenn man aber versucht sie umzusetzen, merkt man, dass es doch nicht so leicht ist. Wenn man aber darauf meditiert, zeigt sich die Bedeutung ganz von selbst. Shamarpas Buch ist teilweise im Stil der alten Mahamudra-Texte verfasst und ich erwähne das, weil dadurch vielleicht klarer wird, wovon ich spreche.
Einen Teil dieser Belehrungen hat Shamar Rinpoche auf Englisch gegeben. Er war zwar nicht perfekt darin, aber er konnte die Bedeutung der Belehrungen recht gut vermitteln. Viele der alten Texte sind entweder noch gar nicht oder nur schlecht übersetzt worden. Jemand mit Verwirklichung würde bei der Übersetzung die richtigen Worte finden, aber ohne Verwirklichung ist das schwierig. Man muss dafür sehr genau verstehen, wie der Geist funktioniert und dann die richtigen Worte auswählen. Man kann als Beispiel vielleicht eine App auf dem Smartphone heranziehen: Früher gab es das Wort "App" überhaupt nicht. Als dann diese Software entwickelt wurde, erfand man dieses Wort dafür und heute weiß jeder, was damit gemeint ist. Auch im Mahamudra verwendet man bestimmte Wörter, die nur jemand wirklich versteht, der durch die Praxis Verwirklichung erlangt hat. Wenn jemand ohne Verwirklichung die Texte liest, so erkennt er zwar eine Struktur im Text, aber die eigentliche Bedeutung kann er nicht verstehen. Das Verständnis wächst mit der Meditation, man findet dann auch die richtigen Worte, um zu beschreiben, was man erfahren hat. Vorher kann man vielleicht vorgeben, etwas verstanden zu haben, aber Papageien können ja auch ein Mantra wie Om Mani Peme Hung nachsprechen...
In unserer Übertragung wird viel meditiert, und Praktizierende brauchen dafür einen Lehrer, der sie in der Praxis führt. Im Laufe der Meditation lernt man den Geist immer besser kennen und klärt immer wieder seine Fragen mit dem Lehrer. Er kann erkennen, wo man in der Entwicklung wirklich steht und gibt einem gegebenenfalls dann die nächste Stufe von Meditation. So wird üblicherweise das Mahamudra übertragen – und es braucht Zeit.
Die Meditationsanweisungen sind individuell unterschiedlich. Es gibt zwar einen oft beschriebenen systematischen Weg, aber jeder Mensch hat eine andere Vorgeschichte, ein anderes karmisches Potenzial. Das Verständnis entsteht in den Schülern unterschiedlich schnell. Manche haben viel unnötiges Karma angesammelt, anderen fehlt es an Verdienst, anderen an Hingabe. Jeder fasst die Anweisungen anders auf, glaubt vielleicht, sie verstanden zu haben, hat es aber gar nicht usw.. Deswegen ist es in der Karma-Kagyü-Linie üblich, dass alle zuerst die Mahamudra-Grundübungen, das Ngöndro, machen. Im Laufe dieser vier Übungen werden wir mit den Mahamudra-Belehrungen vertraut. Dann können wir dem Lehrer gegenüber besser ausdrücken, was wir verstanden haben und der Lehrer kann sehen, wo wir in der Entwicklung stehen.
Durch die Praxis der Grundübungen reinigen wir vor allem negatives Karma. Wenn wir ein schönes Gemälde auf eine Wand malen wollen, muss diese dafür sauber sein. Um Mahamudra wirklich zu bekommen, müssen wir zuerst das Karma aus früheren negativen Handlungen gereinigt haben. Man reinigt dabei nicht nur die Handlungen aus diesem Leben, sondern auch aus vielen früheren Existenzen. Wir haben jetzt den sogenannten "kostbaren Menschenkörper" und dadurch geht es uns derzeit viel besser als den meisten Wesen. "Kostbar" bedeutet hier nicht, materiell reich zu sein, sondern dass man mit dem Dharma arbeiten kann. Dafür braucht es viele Voraussetzungen: Eine ist, dass man überhaupt Vertrauen in das Dharma hat. Eine andere ist, dass man Buddhas Lehren erlernen kann, dass Lehrer dafür da sind. Eine weitere ist, dass man körperlich in einem einigermaßen guten Zustand ist, denn es ist schwerer, wenn man zum Beispiel behindert ist.
Einen "kostbaren Menschenkörper" erlangt zu haben, ist die Folge von früheren guten Handlungen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir die Lehre und Qualitäten wie Verständnis, Hingabe usw. annehmen können. Wir haben im Moment zwar durchaus gutes Karma, aber auch einiges negative, und das müssen wir reinigen, um in diesem Leben Verwirklichung zu erlangen. Das geschieht durch die Grundübungen danach ist unser Geist weniger stumpf und verdunkelt. Man hat mehr Fähigkeiten und kann infolgedessen Verdienst entwickeln, also ein starkes und gesundes Potenzial aufbauen. Das hilft uns, besser mit Schwierigkeiten umzugehen, was uns nicht so gut gelingt, wenn wir noch schwach sind. Die zweite Voraussetzung, um mit dem Dharma zu arbeiten, ist also die Ansammlung von Verdienst.
Diese Belehrungen zu einerseits Reinigung von Karma und andererseits Aufbau von Verdienst werden von Schülern aus verschiedenen Kulturen manchmal missverstanden. Es gibt bei einigen sogar die Idee, dass es bei Verdienst nur um Kraft und Geld ginge. Aus der Sicht des Dharma ist es aber so, dass die Belehrungen leichter zu verstehen sind, wenn man weniger karmische Verdunkelungen und mehr gute Eindrücke aufgebaut hat.
Bei der vierten Grundübung, dem Guru-Yoga, geht es darum, Hingabe zu vertiefen und Segen zu empfangen. Im Laufe der Praxis entwickelt sich aus der anfänglich oft emotionalen Hingabe zunehmend das Potenzial für echte Hingabe. Man öffnet sich mehr, und dadurch wird es leichter, wirklich Segen zu erfahren. Manchmal fragen Leute, warum die Buddhas anscheinend Unterschiede machen, indem sie manchen Menschen Segen geben und anderen nicht. Aber tatsächlich ist der Segen der Buddhas immer für jeden da und immer gleich stark. Ob man ihn wirklich empfangen kann, ist allerdings eine Frage davon, wie gut man sich vorbereitet hat. Ohne Vorbereitung kann man ihn vielleicht gar nicht erleben, obwohl er da ist. Die Sonne ist auch immer da, aber man sieht sie nicht, wenn es bewölkt ist.
Mir fällt hier eine Geschichte ein: Der 16. Karmapa hatte, bevor Tsültrim Namgyal sein Söpönla wurde, einen anderen, älteren Diener. Es kamen damals viele Menschen aus den Dörfern Sikkims für eine Audienz zu Karmapa nach Rumtek, und diese Leute waren manchmal sehr emotional. Einmal bat der Söpönla solch einen Mann, sich ein wenig zu gedulden, denn Karmapa sei gerade beschäftigt. Der Mann war zornig und sagte: "Karmapa ist ein Buddha, er ist wie die Sonne. Aber du bist ein Mensch mit schlechtem Karma und verdunkelst die Sonne wie eine Wolke!" Wenn sich durch die Praxis des Guru-Yoga unsere Hingabe entwickelt, erreicht uns der Segen Karmapas mehr und mehr und lässt uns wachsen, so wie die Sonne die Blumen wachsen lässt.
Wir Kagyüs praktizieren die Grundübungen als Grundlage dafür, die Mahamudra-Belehrungen empfangen zu können. Manche Schüler sehen das aber nicht ein und wollen das Mahamudra sofort bekommen, ohne Vorbereitungen. Aber das würde nicht funktionieren. Der Lehrer könnte zwar die Worte richtig aussprechen, aber ihre Bedeutung würde vom Schüler nicht verstanden werden und es würde sich im Schüler nichts verändern. Die Vorbereitungen führen dazu, dass man tief im Geist weniger Verdunkelungen hat, klarer wird und wenn man dann die Worte zum Mahamudra hört – oder etwas später, wenn man darauf meditiert hat – deren Bedeutung versteht.
Ohne die Vorbereitungen könnte es passieren, dass wir das Gehörte nur durch die Brille unserer gewohnten Vorstellungen betrachten. Wir mögen dann denken, wir hätten es verstanden, haben es aber gar nicht.
Die Praxis des Mahamudra lässt den Geist klarer werden. Manchmal geschieht das sofort, manchmal auch erst im Laufe der Zeit. Es gab immer schon Schüler, die die Bedeutung des Mahamudra sofort verstanden haben und schnell das Resultat bekamen. Andere hingegen brauchen viel Praxis und das Verständnis entwickelt sich allmählich. Eventuell müssen sie dafür auch erst noch andere Praxismethoden üben. In dem Buch "Grenzenlose Weisheit" von Shamarpa kann man eine Idee davon bekommen, wovon ich rede. Es beschreibt die Struktur, wie die Belehrungen gegeben werden.
Wenn man einen Lehrer um Belehrungen zu Mahamudra bittet, muss es jemand sein, der diese Praxis selbst gemacht und eine gewisse Verwirklichung erlangt hat, ein Mahamudra- Meister. Nur so jemand kann es lehren. Früher haben solche Lehrer oft betont, dass es wichtig sei, zuerst ein paar Mal die Grundübungen zu machen. Wenn wir das hören, denken wir vielleicht, dass solche Lehrer wohl sehr streng waren. Tatsächlich sahen sie aber einfach, was die Schüler wirklich brauchten. Manche Lehrer sagten ihren Schülern, dass es ausreicht, einmal das Ngöndro zu machen. Andere aber sagten: "Nochmal... Nochmal... Nochmal..." Auch Milarepa musste schließlich erst einmal sehr hart dafür arbeiten, um von Marpa die Übertragungen zu bekommen.
Wenn der Schüler ein oder mehrere Ngöndros gemacht hat, bekam er dann Schritt für Schritt weitere Erklärungen, meditierte und erlangte mit der Zeit die gleiche Verwirklichung wie der Lehrer, und so wurde die Linie fortgeführt. Wenn die Karmapas ihren Schülern Übertragungen gaben, erlangten diese das Verständnis und konnten es wiederum an ihre Schüler weitergeben. So sprechen wir dann hier von "Linien-Haltern", also diejenigen, die diese Verwirklichung halten und weitergeben konnten. Die Wurzel aller Linienhalter war in der Karma-Kagyü-Linie aber immer der Karmapa.
Das Mahamudra ist ein Teil unserer Übertragung in der Karma-Kagyü – ein anderer Teil sind die Yidam-Praktiken, die Meditationen auf Buddha-Aspekte. Marpa brachte viele solcher Übungen aus Indien nach Tibet. Es ist aber nicht so, dass man all diese Übungen lernt und übt, denn das kann man ja gar nicht. Welche davon für einen selbst am besten geeignet ist, ist sehr individuell. Marpa selbst war eine Ausnahme und übte tatsächlich alle diese Praktiken, denn er hatte ja den Wunsch, sie nach Tibet zu bringen. Deswegen bat er viele Mahasiddhas darum, ihm ihre Übertragungen zu geben und nahm dafür viele Schwierigkeiten auf sich.
Normalerweise verwendet ein Praktizierender aber nur eine einzige Übung. Das ist sinnvoller als viele Meditationen auszuprobieren, denn damit würde man gar nichts erreichen. Früher war es üblich, dass man eine Meditation solange praktizierte, bis man damit Erleuchtung erlangte. In der Karma-Kagyü-Linie waren das oft die Meditationen auf Buddha Höchste Freude (tib. Khorlo Demchog), Rote Weisheit (tib. Dorje Phagmo) oder Allmächtiger Ozean (tib. Gyalwa Gyamtso) oder auch – etwas schwieriger zu praktizieren – Oh Diamant (tib. Kye Dorje). Welche man davon übte, war manchmal eine Frage der eigenen Neigung oder auch der Empfehlung des eigenen Lehrers. Der Weg ist dann ähnlich wie der Weg des Mahamudra ohne diese Buddha-Aspekte1 . Auch hier macht man ein- oder mehrmals die Grundübungen, das Ngöndro. Die eigentliche Yidam-Praxis übt man in Meditations-Zurückziehung, und Grundlage dafür ist, dass man die Ermächtigung und die Meditationserklärungen bekommen hat. Im Retreat übt man mit dem Ritualtext verschiedene Ebenen der Praxis – die "innere", "äußere" und "geheime". Man rezitiert den Text, das Mantra, vergegenwärtigt den Buddha-Aspekt usw.. Die eigentliche Meditation auf den Geist ist dann ähnlich wie beim Mahamudra.
Dieser Weg ist allerdings technisch aufwendiger als der ‚reine‘ Mahamudra-Weg, bei dem man direkter auf den Geist meditiert. Natürlich geht es auch bei der Yidam-Praxis um den Geist, aber in einer Weise, in der man sehr die technischen Anweisungen respektieren muss. Man könnte es mit einem komplizierten technischen Gerät vergleichen, das nicht funktionieren wird, wenn man sich nicht genau an die Bedienungsanleitung hält. Wenn man einen der Schritte bei der Einrichtung nicht korrekt gemacht hat, funktioniert das Gerät nicht und manchmal macht man mit allem, was man dann ausprobiert, das Problem schlimmer und schlimmer. In ähnlicher Weise muss man bei der Yidam-Praxis viele Bedingungen genau einhalten. Sie werden auf Sanskrit Samaya und auf Tibetisch Damtsig genannt. Diese Samayas haben in geradezu mechanischer Weise mit all den Umständen der Praxis zu tun – also mit unserem Verhalten und unseren geistigen Vorstellungen. Wenn man alles korrekt macht, funktioniert die Praxis, anderenfalls wird man zwar durchaus einen Nutzen haben – zum Beispiel Reinigung und Aufbau guter Eindrücke – aber die eigentliche Qualität der Praxis kann nicht zum Tragen kommen. Das ist einer der Gründe dafür, dass man diese Praxis in geschlossener Zurückziehung macht, in der man keinen Kontakt nach außen hat. So kann man die Bedingungen besser einhalten. Bei Übungen wie Rote Weisheit oder Höchste Freude kann so eine Zurückziehung von mindestens sechs Monaten bis zu einem Jahr dauern, je nach der Anzahl der Mantras, die man rezitiert und auch je nach dem, welchen Lehrer man hat. Manche Umstände der Praxis und die Länge der Retreats haben sogar einen sozusagen ‚mathematischen‘ Hintergrund mit Berechnungen der Anzahl der nötigen Tage etc. Es kommen hier viele Umstände zusammen, um zum Resultat zu gelangen. Bestimmte Zahlen der Mantra-Rezitation haben jeweils einen bestimmten Nutzen, genau wie die Beachtung richtiger Zeiten.
All diese Details bei der Yidam-Praxis sind der Grund für die sehr strikten Zurückziehungen. Für die Mahamudra-Praxis hingegen ist das nicht in dieser strengen Weise nötig. Man muss natürlich auch ernsthaft praktizieren, und Zurückziehungen werden auch hier gemacht, denn es ist schwer, sich wirklich zu konzentrieren, wenn man immer unter Leuten ist und geredet wird. Zurückziehungen sind hier jedoch nicht im technischen Sinne so nötig wie zum Beispiel in der Praxis der Roten Weisheit . Die wesentlichen Erklärungen zum Geist sind bei der Yidam-Praxis aber genau die gleichen wie im ‚reinen‘ Mahamudra.
Im Moment funktioniert unser Geist in der Weise eines gewöhnlichen fühlenden Wesens. Wir haben ein Gehirn und sind Menschen, mit den entsprechenden begrifflichen Vorstellungen der Menschenwelt. Die Yidam-Praxis zielt darauf ab, diese Vorstellungen abzubauen, stattdessen die Vorstellungen eines Erleuchteten zu entwickeln und dadurch wie ein Buddha zu werden. Die besonderen Techniken, die wir dafür einsetzen, transformieren langsam unsere menschlichen begrifflichen Vorstellungen in die Weisheit eines Buddha. Zuerst bekommen wir eine Ermächtigung für die Praxis und wenn wir diese beginnen, heißt es in den Texten, dass alle Phänomene und unser eigener Körper leer sind. Leerheit ist unser ursprüngliches Wesen. Im Moment erleben wir die Illusion, ein fühlendes Wesen, ein Mensch, zu sein. Diese Illusion lösen wir hier auf und kehren zu unserem ursprünglichen Zustand zurück – zu unserer Buddha-Natur. Ohne Form und ohne Sinneswahrnehmung sind wir uns nur unseres wahren Wesens gewahr. In der Meditation erleben wir uns dann als der Yidam und nähern uns damit mehr und mehr unserem wahren Wesen an. Durch die Anwendung aller möglichen Meditationsmethoden wird unser Geist langsam transformiert. Das Resultat der Praxis zum Beispiel der Roten Weisheit ist, dass wir uns am Ende als Rote Weisheit erleben. Äußerlich leben wir natürlich immer noch als Menschen, aber wir sind frei geworden von den normalen Bedingungen der menschlichen Existenz – all den Verdunkelungen, der Unwissenheit und den Illusionen. Wir haben zwar noch den Körper eines Menschen, aber sind uns völlig der Qualität der Roten Weisheit gewahr. Wir fallen nicht wieder in die gewöhnlichen Vorstellungen Samsaras, die Ursachen für Wiedergeburt, für Karma, wechselseitige Abhängigkeit usw. zurück. Stattdessen sind wir zu dem Buddha-Aspekt geworden.
Am Ende seines Lebens zeigte Marpa seinen Schülern seine Verwirklichung, indem er sich für sie zuerst in den Buddha-Aspekt Oh Diamant (skt. Hevajra) transformierte und sich dann ganz auflöste. Vielleicht konn te nicht jeder von ihnen das sehen, aber einige Schüler waren in der Lage, dieses Resultat von Marpas Praxis wahrnehmen zu können. Dieser Teil unserer Übertragung, die Methoden der Yidam-Praxis, dient dazu, dass man sich in einen Buddha verwandelt. Wenn man all die dafür nötigen Bedingungen einhalten kann, funktioniert das sehr präzise und es ist leicht, das Resultat zu bekommen.
Marpa sammelte von vielen Mahasiddhas in Indien Übertragungen und brachte diese nach Tibet. Für seine Schüler war es nicht nötig, alle zu praktizieren, denn eine einzige davon reichte aus, um Verwirklichung zu erlangen. Es gab zwar später Übertragungszyklen wie das Kagyü Ngagdzö mit sehr vielen solcher Ermächtigungen, aber wenn man sie alle übertragen bekommt, dann nur als Segen, denn für die eigene Verwirklichung ist eine einzige davon ausreichend. Zur Zeit der Mahasiddhas im alten Indien und später in Tibet haben viele Praktizierende mit einer einzigen Übung das Resultat erlangt, indem sie mit Segen und der richtigen Übertragung präzise den Anweisungen folgend meditierten.
Die Wurzel aller Verwirklichung ist in unserer Karma-Kagyü-Linie der Karmapa. Seit der Zeit des ersten Karmapa Düsum Khyenpa bis heute haben Karmapas Schüler Verwirklichung erlangt und dies wiederum ihren Schülern weitergegeben. Es gibt viele bewegende Geschichten dazu, insbesondere aus der Zeit des 6., 7. und 8. Karmapa. Es scheint, dass zu deren Zeit besonders viele Menschen die Fähigkeit zu erfolgreicher Praxis hatten, was aber nicht heißt, dass es heute nicht mehr möglich wäre.
Einige Wochen bevor der letzte Shamar Rinpoche starb, hörte ich, wie ein junger Tulku bei ihm darüber klagte, dass heutzutage alles im Niedergang begriffen sei und wir so viele Übertragungen verlieren würden. Shamar Rinpoche antwortete ihm: "Du musst dir keine Sorgen um den Niedergang des Vajrayana machen. Praktiziere es einfach selbst und beschwere dich nicht. Wenn du es selbst praktizierst, werden die großen Meister dir zur Seite stehen."
Tatsächlich heißt es zum Beispiel: Wenn man an bestimmten heiligen Stellen in Indien praktiziert, zum Beispiel den "acht tantrischen Friedhöfen", und sich in Meditation mit Hingabe an die alten Mahasiddhas wendet, können sie einem tatsächlich erscheinen und Belehrungen geben. Es gibt nicht viele Menschen, die so etwas erlebt haben, aber wir brauchen das auch nicht, denn wir haben ja den Karmapa und er ist hier bei uns. Wenn wir uns mit seiner Linie verbinden, Ermächtigungen und Praxis-Belehrungen von verschiedenen Lehrern dieser Linie bekommen, können wir entspannt meditieren und uns sicher sein: Das Resultat wird kommen. Es ist in unserer Linie nicht so, dass es manchmal möglich ist und dann wieder nicht, denn Wesen mit höchster Erleuchtung, wie der Karmapa, sind da und halten all die Übertragungen.
Damit wir uns ganz leicht mit ihm und der ganzen Linie verbinden können, gab der 16. Karmapa eine einfach zu praktizierende Übung, den "Guru-Yoga auf den 16. Karmapa". Die innere Ausrichtung auf Karmapa wird durch Vorbereitung und Praxis zu einer Gewohnheit und man ist ganz natürlich mit ihm verbunden. Ohne diese Verbindung wäre es aber schwierig, so als würde man versuchen, sich an einem runden Stein einzuhaken.
Neulich hatte ich ein persönliches Erlebnis davon, wie sehr wir mit Karmapa verbunden sind. Auf einem mehrtägigen Treffen in Bodhgaya, auf dem einige Rinpoches eine große Änderung in der Organisation unserer Karma-Kagyü-Zentren vorgeschlagen hatten, kam Karmapa erst am letzten Tag dazu und wurde über die Vorschläge unterrichtet. Er sagte weder Ja noch Nein. Ich wusste, dass er nicht so viel davon hielt und die Entscheidung hinauszögerte, um zu sehen, wie es sich weiter entwickelte. Er sagte, dass man sich die Sache in sechs Monaten noch einmal anschauen würde. Auch ich war erst am letzten Tag dazugekommen und hatte meine eigenen Ideen zu der Angelegenheit. Alle hatten schon etwas gesagt und jetzt war Karmapa an der Reihe; so schwieg ich, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich nicht vielleicht doch reden sollte.
Das Meeting war zu Ende und alle fuhren ab. Ich saß schon im Auto, wurde aber plötzlich zurückgerufen, weil Karmapa mich sprechen wollte. Als ich in sein Zimmer kam, forderte er mich auf: "Jetzt erzähle mir, was du vorhin sagen wolltest!" [Rinpoche lacht.] Ich war ziemlich überrascht, obwohl ich so etwas schon mit dem 16. Karmapa erlebt hatte. Bei dem Meeting hatte ich sogar etwas hinter Karmapa gesessen, er hatte gar nicht zu mir herübergeschaut. Es gab immer wieder Punkte in den Gesprächen, zu denen mir etwas zu sagen auf der Zunge lag. Er wusste das offenbar einfach, so wie er auch weiß, wenn wir in der Karmapa-Meditation "Karmapa Khyenno" sagen und uns für ihn öffnen. Ich denke tatsächlich, dass Karmapa das weiß, selbst wenn in dem Moment Hunderte von Menschen die Meditation machen.
Zurzeit ist unser Geist noch sehr verdunkelt, aber der Segen wirkt wie Medizin und löst diese Schleier auf. Buddhas Lehren sprechen von verschiedenen Arten von Verdunkelungen, wie zum Beispiel den Gewohnheitstendenzen aus der Vergangenheit, die uns immer wieder einholen. Eine andere Art ist, dass wir immer wieder von Emotionen eingefangen werden. Wir erleben ganz anders, wenn wir zum Beispiel wütend oder eifersüchtig sind, wir sind dann wie betrunken, verlieren all unsere Güte und unsere nahen Beziehungen leiden darunter. Eine weitere Art von Verdunkelung ist tatsächlich unser Wissen, also alles, was wir gelernt haben. Das verdunkelt unsere Buddha-Natur, weil wir so völlig von dem überzeugt sind, was wir im Kopf haben. Natürlich ist Wissen nicht an sich etwas Negatives, aber in unserem Fall ist es doch ein Teil von Samsara. Über viele Leben hin haben wir alles Mögliche gelernt und so ist diese Verdunkelung sehr stark geworden.
Selbst wenn wir dann Meditationen anwenden wie das Guru-Yoga oder eine Yidam-Praxis, können wir die Verdunkelung nicht sofort reinigen. Aber sie wird langsam abnehmen, und wir werden mehr und mehr von der Sicht Samsaras befreit und sehen, dass nicht alles, woran wir im Leben haften, wirklich so wichtig ist. Unser Geist wird in dieser Weise in einem allmählichen Prozess immer freier und zugänglicher.
Ähnlich ist es mit unseren Emotionen. Sie sind Teil unserer Natur und kommen im Geist auf, wenn bestimmte Bedingungen dafür zusammenkommen. Im Laufe der Dharma-Praxis wird unser Geist aber immer weniger von ihnen eingefangen werden. Es entsteht allmählich mehr Raum und Freiheit, wenn auch nicht spürbar von Tag zu Tag, sondern eher von Jahr zu Jahr.
Das sind Resultate, die wir durch den Segen bekommen, wenn wir auf Karmapa meditieren und ebenso durch die Praxis der Grundübungen. Man spricht zwar immer von den 111.111 Mal, die man in jeder Übung zählt – aber eigentlich sollte man danach mit den Übungen weitermachen, denn wir leben nun mal nicht in völlig reiner Weise. Wir versuchen unsere menschlichen Bedürfnisse zu erfüllen und handeln dabei zwar nicht nur schlecht, aber oft auch nicht völlig sauber. Deswegen wäre es gut, wenn wir regelmäßig Übungen zur Reinigung und zum Aufbau von guten Eindrücken machen. Die Grundübungen sind Teil der Praxis unserer Übertragungslinie und regelmäßige Reinigung sollte so selbstverständlich sein, wie das Waschen unserer Kleidung – sie wird einfach immer wieder schmutzig.
Unser Lebensstil lässt nicht zu, dass wir viele verschiedene Übungen machen, aber es ist auch ausreichend, wenn wir eine einzige Praxis regelmäßig im Alltag üben. Wenn wir sie in unser Leben einfließen lassen, verändert uns das allmählich. Man kann das vielleicht nicht sofort erkennen, aber wenn man nach ein paar Jahren zurückblickt, ist der Unterschied deutlich. Man ist Buddhas Lehren nähergekommen und die Praxis hat sich vertieft. Bei manchen Menschen kommt irgendwann der Wunsch auf, auch tiefgründigere Vajrayana-Praktiken zu üben. Das ist im Prinzip möglich, aber es sollte nicht zu früh geschehen, denn diese Übungen würden einem dann nicht wirklich helfen. Man würde verwirrt, bekäme Zweifel und würde sich fragen, warum die Meditationen nicht so wirken, wie man es erwartet.
Man nennt diese Übungen "geheim", und es heißt, sie sollten nicht ‚auf dem Marktplatz‘ angeboten werden, denn sie würden dann nicht ihre Resultate bringen und sogar Ablehnung und Zweifel hervorrufen. Der einzige Grund dafür, dass sie geheim sind, ist, uns vor solchen Problemen zu schützen. Man muss wirklich bereit dafür sein, dann funktionieren sie auch. Bis dahin ist es vor allem wichtig für uns, die Grundübungen zu machen. Zur gleichen Zeit bekommen wir zwar immer wieder Ermächtigungen auf viele Buddha-Aspekte, aber es ist nicht so gedacht, dass wir die damit verbundenen Meditationen auch sofort machen sollten. Die Ermächtigungen reinigen unseren Körper, Rede und Geist und geben uns damit die Grundlage, um besser meditieren zu können. Mit jeder Ermächtigung, die wir empfangen, erneuern wir das immer wieder.
Es wird im Dharma betont, dass die richtige Vorbereitung für den Praktizierenden so wichtig sei, der Ausdruck "Vorbereitung" ist aber eigentlich auch etwas irreführend. Er klingt so, als sei das noch nicht die ‚echte‘ Praxis, aber tatsächlich ist man damit schon auf dem Weg und verändert sich. Ein besserer Ausdruck als "Vorbereitung" wäre "Grundübungen", denn man arbeitet immer weiter an der richtigen Grundlage, auf der dann später auch kompliziertere Übungen funktionieren können.
Wir haben in unserer Übertragung also zwei Linien – die direkte Meditation auf den Geist, das ‚reine‘ Mahamudra, und die Visualisierungen und Mantra-Rezitationen der Yidam-Praktiken. Die Yidam-Praxis führt aber genauso zur Meditation des Mahamudra. Man spricht viel von diesen beiden Wegen der Karma-Kagyü-Übertragung, aber jeder der beiden hat noch viele Unterpunkte.
Die Wurzel der gesamten Karma-Kagyü-Übertragung ist unsere Verbindung mit Karmapa. Es ist wichtig das Vertrauen zu haben, dass die Qualität der Übertragung über all die Karmapas bis heute nie abgenommen hat. Manche Praktizierende bekommen schnell gute Resultate, bei anderen dauert das etwas länger. Das ist abhängig von den individuellen Umständen. Die Qualität der Übertragung ist jedoch die gleiche wie früher, wegen Karmapa.
Karmapa hat vor langer Zeit schon das Resultat erlangt, er ist ein Buddha. Mit jeder Geburt nimmt er einen neuen Körper an, aber sein Geist ist wie der des letzten Karmapa und er hat all das Wissen der früheren Karmapas. Es ist eher eine Formalität, dass er in jedem Leben die Übertragung von seinen Lehrern bekommt. Man sagt, dass Karmapa eigentlich ein Buddha sei, dass er aber immer wieder in der Form eines hohen Bodhisattvas erscheinen wird, so wie in unserer Zeit. In dieser Weise wird er auch gegenwärtig sein, wenn der fünfte Gründer-Buddha, Maitreya, hier in der Welt lehrt.
In der Tat fing die Geschichte der Karmapas nicht mit dem 1. Karmapa an, sondern er hatte lange zuvor schon Erleuchtung erlangt. Erst als der 1. Karmapa Düsum Khyenpa begann er, sich unter dem Titel "Karmapa" zu zeigen. Sein Wirken in der Welt wird nicht nach ein paar Leben wieder aufhören, sondern er wird immer wiederkommen und sich schließlich in sehr ferner Zukunft als der 6. Gründer-Buddha zeigen. Karmapa wird noch Hunderttausende von Jahren hier sein, wir müssen uns keine Sorge machen, dass unsere Verbindung mit ihm nur etwas Kurzfristiges sei. Es ist gut zu wissen, dass es nicht nur um dieses eine Leben hier geht, sondern um viele Leben, weit in die Zukunft.
Wir reden so oft über Karmapa, weil die Übung der Übertragungen in unserer Linie ganz und gar auf der Verbindung zu ihm beruht. Die Karma-Kagyü-Übertragung gilt auch deswegen als sehr präzise, weil sie vollständig von Karmapa gehalten wird. Seit dem 1. Karmapa im 12. Jahrhundert bis heute war er immer der wichtigste Halter der Übertragung. Das zu wissen hilft, uns auf Karmapa auszurichten, uns mit ihm zu verbinden und die Lehren anzuwenden.
Die Karma-Kagyü-Linie ist unter den vielen Übertragungslinien im Tibetischen Buddhismus sehr besonders, denn es ist die einzige, die in dieser Weise gehalten wird: Nicht durch wechselnde Personen, sondern durch einen einzigen Buddha, dem Karmapa. Natürlich gab es in der Übertragung zwischen den Karmapas auch andere Linienhalter, aber es wird so gesehen, dass Karmapa die Haupt-Wurzel für die ganze Übertragung ist.
Andere Linien im Tibetischen Buddhismus sind auch sehr wichtig, aber die Übertragung funktioniert bei ihnen anders, sie haben unterschiedliche Quellen dafür. Auch in den anderen Kagyü-Unterschulen, die nach Gampopa entstanden sind, wechseln die Linienhalter immer wieder. Ausschließlich in der Karma-Kagyü ist es immer wieder der Karmapa.
Bratislava 2018, aus dem Englischen übersetzt und bearbeitet.
1 Es gibt die Mahamudra-Praxis mit und ohne die Meditation auf Buddha-Aspekte.
Jigme Rinpoche
Lama Jigme Tsewang Rinpoche wurde 1949 in Kham in Osttibet geboren. Er ist ein Neffe des 16. Karmapa und ein Bruder des 2014 verstorbenen 14. Shamar Rinpoche. Als Jigme Rinpoche sieben Jahre alt war und der kommunistische Terror der Chinesen sich in der Gegend verbreitete, nahm der vorige Gyatrül Rinpoche ihn und Shamar Rinpoche heimlich mit nach Tsurphu, ins Kloster der Karmapas in Tibet. Jigme Rinpoche blieb dort bis zum Alter von elf Jahren und studierte unter der Leitung des vorigen Pönlop Rinpoche.
Als der 16. Gyalwa Karmapa 1959 Tibet mit einem Gefolge von vielen hohen Lamas und Tulkus verließ und nach Rumtek (Sikkim) ging, begleitete ihn auch Jigme Rinpoche. In Rumtek angekommen, gründete Karmapa, um die kostbaren Belehrungen der Kagyü-Linie zu bewahren, ein Kloster. Karmapa kümmerte sich besonders um die wichtigsten Tulkus der Linie und um diejenigen, die ihre Ausbilder werden sollten. Jeden Tag gab Karmapa ihnen zwei oder drei Stunden lang besondere Belehrungen und Instruktionen.
Jigme Rinpoche studierte unter der Leitung von verschiedenen Meistern die Gesamtheit der buddhistischen Lehre und insbesondere die Unterweisungen der Karma-Kagyü-Linie.
1974 begleitete er Gyalwa Karmapa auf seiner ersten Weltreise. Während dieser Reise bot Bernard Benson dem Karmapa Grundstücke in der Dordogne in Frankreich als Geschenk an. Der Karmapa nahm das Geschenk an und beschloss, dort seinen europäischen Hauptsitz einzurichten: Dhagpo Kagyü Ling. Er bat Jigme Rinpoche, sich um das Zentrum zu kümmern und ernannte ihn zu seinem spirituellen Repräsentanten in Europa. Abgesehen davon, dass Jigme Rinpoche alle hauptsächlichen Übertragungen und Belehrungen von Gyalwa Karmapa erhalten hat, war er auch eng mit Gendün Rinpoche, Pawo Rinpoche, Kalu Rinpoche und Dilgo Khyentse Rinpoche verbunden und erhielt viele Unterweisungen und Ermächtigungen von ihnen.
Ebenso erhielt er wichtige Übertragungen von Düdjom Rinpoche, vom vorigen Sangye Nyenpa Rinpoche und der vorigen Khandro Rinpoche. Als der 16. Karmapa Jigme Rinpoche als seinen Repräsentanten für Europa ernannte, sagte er: "In der Person von Jigme Rinpoche lasse ich euch mein Herz." In diesem Sinne führt Jigme Rinpoche heute seine Aktivität in Europa fort, reist ausgiebig, besucht Zentren und unterrichtet dort und inspiriert alle, die mit ihm in Kontakt kommen.
www.jigmela.org