Karma – Teil IKünzig Shamar Rinpoche"Es ist der eigene Geist, der den Raum für die Illusionen gibt." Dieses grundlegende Bewusstsein ist seiner Natur nach zwar völlig rein, aber es ist in jedem einzelnen fühlenden Wesen von Unwissenheit verdeckt, als würde es schlafen. Aus diesem Grund erkennt man den reinen Aspekt des Geistes normalerweise nicht. Der Geist – so sagt man – ist in Unwissenheit, er ist umwölkt. Die Reinheit dieses Geistes in sich selbst hat keine Form, keine Größe, sie ist zeitlos und jenseits von allem, was man sich vorstellen kann. In gleicher Weise hat auch die Unwissenheit des Geistes keine Größe, sie ist nicht als ein Ding auffindbar. Die Natur des reinen Geistes und die Natur der Unwissenheit sind in dieser Hinsicht gleich. Die primäre Ursache für jeden starken Gedanken und jede Emotion – ob positiv oder negativ – ist, dass man an der Idee eines Selbst anhaftet. Diese starken Geisteszustände werden im Raum der Unwissenheit gespeichert, verbinden sich dort mit ähnlichen Zuständen des Geistes, bestärken sich gegenseitig und wachsen an. So sammeln sich immer mehr Karmas an und sie werden immer stärker, bis schließlich die stärksten von ihnen zu einer primären Ursache für ein bestimmtes Leben heranreifen. Sie bewirken, dass der Geist dann voll von bestimmten Tendenzen ist, was sich auch in Anhaftung an eine bestimmte körperliche Form ausdrückt. In dieser Form erlebt der Geist dann die Illusion einer Lebenszeit. Der Geist erlebt sich zum Beispiel in einem menschlichen Körper, wenn im Geist die primäre Ursache für die Erfahrung eines Menschenlebens herangereift ist. Zusätzlich kommen auch viele verschiedene weitere Ursachen zum Tragen, die miteinander in Wechselbeziehung stehen. So findet sich dieser Mensch dann in einem Netzwerk von Verbindungen mit anderen Wesen in dieser Welt hier wieder. Unser derzeitiges Karma dafür, ein Mensch zu sein, ist im Moment noch sehr stark. Es hindert andere karmische Samen am Heranreifen und lässt sie vorerst weiter schlummern. Wenn unser menschliches Leben dann zu Ende geht, werden die nächststärkeren im Geist gespeicherten Eindrücke als Erstes heranreifen. Dieser Prozess des Heranreifens von karmischen Gedanken ist der gleiche wie beim Entstehen von Träumen im Schlaf. Die Sinnesfähigkeiten für Hören, Sehen usw. und ihre entsprechenden Bewusstseinsarten sind während des Schlafes in den Grundgeist zurückgezogen. Es geschieht nicht viel und der Geist ist nicht besonders aktiv. In dieser Phase können aus dem unwissenden Teil des Grundgeistes dann Gewohnheitstendenzen aufsteigen und sich als Träume zeigen. Diese Ursachen sind aber nicht besonders stark, weswegen Träume einfach entstehen, sich ändern und wieder verschwinden können. Sie sind in keiner Weise etwas Festes. Die Illusion, dass wir ein Leben in einem Menschenkörper erfahren, wird hingegen von sehr starken Gewohnheitstendenzen erzeugt. Man könnte es mit einem relativ soliden Traum vergleichen; solide insofern, dass er bereits entstanden ist und andauert. Wenn man zum Beispiel das Karma dafür hat, 100 Jahre lang zu leben, würde man solange leben, wie die Ursache für diese 100 Jahre noch vorhanden wäre. Sobald diese verbraucht ist, stirbt man und das bedeutet, dass eine solide Illusion, die von einem bestimmten starken Karma erzeugt wurde, aufhört, weil sich das Karma dafür verbraucht hat. Die Illusion löst sich auf, und in den Augen anderer Menschen ist man tot. Für das eigene Erleben bedeutet es aber nur: Eine Illusion ging zu Ende und eine andere beginnt. Die Zeit zwischen einem Leben und dem nächsten wird auf Tibetisch Bardo genannt. Sie wird als sehr verwirrend erlebt, geprägt von vielen verschiedenen Gewohnheitstendenzen und Illusionen. Jeder verstrichene Tag bringt einen jedoch dem Zeitpunkt näher, an dem der nächste starke karmische Samen zu einer Illusion heranreift. Der Geist wird sich dann völlig mit dieser identifizieren und sich nicht mehr getrennt von ihr erleben, man ist dann "in" der Illusion. Es ist nicht so, dass es irgendwo "da draußen" die Illusion eines menschlichen Lebens gäbe und man dort eintreten würde, sondern: Wenn man das Karma für eine Wiedergeburt als Mensch hat, reift dieser Same im Geist heran und führt dazu, dass man die Illusion eines Lebens in einem Menschenkörper in der Menschenwelt erlebt. Ein Karma kann aber auch von einem anderen Karma beim Heranreifen gestört werden. Je nachdem wie stark die beiden sind, ist es sogar möglich, dass ein Karma ein anderes am Heranreifen hindert. Solange ein karmischer Samen nicht herangereift ist, kann er noch daran gehindert werden. Wenn man Theravada praktiziert und das Ziel dieser Praxis erreicht hat, ist man ein sogenannter Arhat. Auf diesem Weg sagt man sich von der bedingten Welt los und man will nicht wiedergeboren werden. Durch eine Meditation, die nur auf Auflösung des Haftens an einem Selbst zielt, kann man tatsächlich die Illusion der Wiedergeburt überwinden. Man mag sich fragen, was mit dem Karma passiert, wenn der Geist sich von Illusion befreit hat? Die Antwort ist: Karma ist Teil der Unwissenheit und löst sich mit dieser natürlicherweise auf – so wie Dunkelheit mit dem Licht verschwindet. Arhats haben einen bestimmten Grad an Verwirklichung des reinen Geistes erlangt. Sie haben zwar kein Karma und keine Störgefühl mehr, haben aber nicht das positive Karma aufgebaut, das so viele gute Resultate hervorbringt. Wenn man nämlich sehr viel positives Karma angesammelt hat, steht einem ein großer Reichtum an Mitteln zur Verfügung, um anderen Wesen zu helfen. Man kann ihn einsetzen, um anderen Wesen zu helfen, ansonsten bräuchte man ihn gar nicht. Es gibt zahllos viele fühlende Wesen. Da man als Bodhisattva ihnen allen helfen will, braucht man viel gutes Karma, um zu ihrem Wohl gute Illusionen zu erschaffen. Buddha Amitabha zum Beispiel hat durch die Kraft seines Verdienstes für die fühlenden Wesen das Reine Land Dewachen manifestiert. Aufgrund seiner Wünsche kann es im Geist der fühlenden Wesen erscheinen. Er hat es nicht für sich selbst erschaffen, sondern nur für die Wesen. Die Ursache für das Erscheinen von Dewachen ist Amitabhas positives Potenzial. Zugleich muss aber auch positives Potenzial im Geist der fühlenden Wesen vorhanden sein, damit sie mit seinem Reinen Land und seinen Wünschen in Verbindung treten können. Diese Verbindung ermöglicht es den Wesen erst, von dem Reinen Land zu hören und es schließlich sogar zu erleben. Wenn man anderen hilft und Verdienst ansammelt, handelt man wie ein Bodhisattva. Ihr könnt das auch! Wenn man dann aber wirklich eine der Bodhisattva-Stufen erlangt hat, ermöglicht das einem noch viel mehr. Ich könnte dann zum Beispiel viele Shamar Rinpoches in all den verschiedenen Daseinsbereichen manifestieren, um den Wesen zu helfen. Das wäre viel hilfreicher, als wenn sie alle hier in dieser Welt wären. Nagarjuna ist ein Beispiel dafür: Als er durch seine Meditation in einem Leben die erste Bodhisattva-Stufe erlangt hatte, ermöglichte ihm das, in vielen verschiedenen Bereichen gleichzeitig viele Formen von sich zu manifestieren. In einer chinesischen Fabel gibt es die Figur eines Affen mit besonderen Fähigkeiten: Er kann viele Formen von sich selbst aussenden, um Dämonen zu bekämpfen. Bei erleuchteter Emanation geht es aber um etwas ganz anderes, nämlich dass sich ein Bodhisattva-Wunsch erfüllt. Die Wünsche der Bodhisattvas können dann wahr werden, wenn sie die Bhumis – die erleuchteten Stufen – erlangt haben. Es ist eigentlich nicht möglich, dass eine hölzerne Garuda-Statue Schlangen verscheucht, aber die Schlangen spürten wohl irgendetwas und hielten sich fern. Vielleicht sahen sie aufgrund des Wunsches von Shanku einen echten Garuda? Wo auch immer die Statue aufgestellt wurde, hielt sie die Schlangen fern und die Menschen waren geschützt. Karmische Verbindungen können aber auch negativ sein, zum Beispiel mit einer Person, die einen boshaften Geist hat. So eine Person kann uns und anderen Schlechtes wünschen. Dadurch erzeugt sie ungünstige Umstände für die Wesen. Wenn man mit so jemandem eine karmische Verbindung hat, könnten diese negativen Umstände einen beeinträchtigen. Es ist offensichtlich, dass wir auch negatives Karma im Geist haben, da wir immerzu Störgefühle erleben und seit endlosen Zeiten in Samsara wiedergeboren wurden. Wenn diese Karmas heranreifen, könnten sie den eigenen Weg zur Erleuchtung behindern. All diese Illusionen, die durch das Heranreifen des Karmas entstehen, werden nicht aufhören, bis man Erleuchtung oder zumindest die Stufe der persönlichen Befreiung erlangt hat. Die Ursache dieser negativen Karmas wurzelt in unserem Haften an einem Ich. Damit sie unsere Entwicklung auf dem Dharma-Weg nicht stören, wollen wir sie abschwächen und dafür brauchen wir Unterstützung, nämlich Verdienst. 1 Bzw. die Entwicklungsphase der Diamantweg-Meditationen. Künzig Shamar Rinpoche 1959 verließ Shamar Rinpoche aufgrund der chinesischen Invasion sein Heimatland Tibet an der Seite des 16. Karmapa. Bis 1979 erhielt er im Kloster Rumtek in Sikkim sämtliche Belehrungen und Übertragungen der Kagyü-Linie vom 16. Karmapa. Seitdem reiste er durch die ganze Welt und lehrte den Diamantweg-Buddhismus. Im März 1994 erkannte er offiziell Trinle Thaye Dorje als den 17. Gyalwa Karmapa an und leitete dessen Ausbildung. 1996 gründete er "Bodhi Path", eine Organisation von buddhistischen Zentren in Ost und West. Rinpoche ist Autor von verschiedenen Büchern wie zum Beispiel "Lojong – der buddhistische Weg zu Mitgefühl und Weisheit" und "A Golden Swan in Turbulent Waters". |
||
![]() |