Interview "Wenn der Buddhismus im Westen erblühen soll..."Professor Sempa DorjeViele Menschen kennen dich als Lehrer des 17. Karmapa Trinle Thaye Dorje und würden daher gerne mehr über dich erfahren. Wo bist du geboren – und wann bist du von deiner Familie weggegangen? Ich wurde 1929 in Westindien, im Distrikt Kinor in Himachal Pradesh, geboren. Auf Tibetisch nennen wir dieses Gebiet Khunu, und es ist Teil des indisch-tibetischen Grenzgebiets. Mein Heimatdorf war ziemlich klein, nur ein paar Häuser. Als ich 14 Jahre alt war, starb mein Vater. Daher zog mich vor allem meine Mutter auf. Sie brachte mir das Lesen bei und die Grundzüge des Dharma. Als ich 17 oder 18 Jahre alt war, bin ich aus meiner Heimat weggegangen und nach Tibet gereist. Dort blieb ich bis 1961. Die chinesische Invasion war der Auslöser, dass ich nach Indien zurückkehrte. Was war der Grund dafür, dass du nach Tibet gegangen bist? Dafür gab es viele Gründe. Vor allem wollte ich in Tibet studieren. Zu der Zeit herrschte in Indien und den an Tibet angrenzenden buddhistischen Gebieten wie Ladakh, Khunu und Nepal die Meinung, dass Tibet die Schatzkammer allen buddhistischen Wissens ist. Der beste Weg, um sich dieses zu erschließen, war dorthin zu gehen. Wann bist du zum ersten Mal mit dem Dharma in Berührung gekommen? Wie hast du von buddhistischer Philosophie erfahren? Mein Familienstammbaum ist sehr lang. Ich kann ihn fast 30 Generationen zurückverfolgen, es können aber auch mehr gewesen sein. Alle meine Vorfahren waren praktizierende Buddhisten, mit – wie man sagt – hohen Verwirklichungen. Einige von ihnen waren sogenannte Vidyadharas1. Man sagt sogar, dass manche von ihnen fliegen konnten. Aber das sind nur Geschichten. Ich weiß nicht, ob sie auf historischen Fakten beruhen. Wo in Tibet hast du studiert – und bei wem? In Tibet habe ich im Kloster Tashi Lhünpo studiert und wurde dort auch als Mönch ordiniert. Ich hatte bestimmt mehr als 50 Lehrer dort. Doch es war vor allem der Abt, der mich dort betreut und für mich gesorgt hat. Darüber hinaus habe ich aber auch an einer Sakya-Schule und an vielen weiteren Orten studiert und gelernt. Im Kloster Tashi Lhünpo gab es zu dieser Zeit viele ausgebildete Gelehrte, sogenannte Geshes, und rund 5.000 Studierende. Ich war einer von ihnen, und das Kloster war der Ort an dem ich die längste Zeit zubrachte. 1961 bist du aufgrund der chinesischen Invasion nach Indien zurückgekehrt. Wie bist du viele Jahrzehnte später zum Lehrer des Gyalwa Karmapa geworden? Nachdem ich nach Indien zurückkam, habe ich fast neun Jahre lang an der Sanskrit-Universität in Varanasi studiert. Zu dieser Zeit war ich als Mönch sehr aufgeschlossen. Ich wollte möglichst frei und unabhängig studieren und nicht nur jemandem zuarbeiten. Während dieser Zeit hat mein Sanskrit-Lehrer mich aufgefordert, selbst Lehrer an der zentralen Universität für Tibetische Studien in Sarnath bei Varanasi zu werden. Diesen Auftrag konnte ich nicht ablehnen, und so habe ich dort rund 20 Jahre lang gelehrt. Später, kurz vor meinem Ruhestand, schickte Künzig Shamar Rinpoche verschiedene Khenpos zu mir. Er schlug mir vor, in Zukunft Studien und Forschungen an diversen Karma-Kagyü-Institutionen zu betreiben. Schon während meiner Zeit am Varanasi-Institut hatte ich mir vorgenommen, zum Kangyur und Tengyur2 zu forschen. Doch obwohl Khenpo Tsültrim Sangpo mehrmals im Auftrag Shamarpas bei mir anfragte, kam ich seinem Wunsch nicht nach. Später besuchte mich Khenpo Tschödrak Tenphel und sagte: „Shamar Rinpoche selbst wird zu einem Gespräch vorbeikommen, um die Schwierigkeiten zu beseitigen, die du anscheinend hast.“ Zu diesem Zeitpunkt war ich kein Mönch mehr. Daher habe ich geantwortet: „Rinpoche ist ein sehr hoher Lama. Besorge mir einen Termin bei ihm, und ich werde kommen.“ So kam es, dass ich nach meiner Pensionierung nach Neu Delhi reiste, um Rinpoche zu treffen. Als ich jedoch feststellte, dass es am KIBI keinerlei Mittel gab, um mir Forschungen zu ermöglichen, beschloss ich nach Hause zurückzukehren. Eigentlich sollte ich Rinpoche morgens um acht Uhr treffen. Er war aber schon nach Bhutan abgereist und hatte mir bei Khenpo Tsültrim Sangpo eine Nachricht hinterlassen: „Wir sehen uns in Kalimpong.“ [Professor Sempa Dorje lacht]. Ich sagte, dass ich nicht dorthin fahren könne, da ich mit meiner Familie unterwegs sei. Außerdem war die Reise kostspielig. Doch der Khenpo sagte mir, dass er sich um alles kümmern werde. Und das tat er. So bin ich – wie von Rinpoche gewünscht – nach Kalimpong gefahren. In Kalimpong traf ich Rinpoche und einige der Khenpos. Bei diesem Treffen wurde mir ein Brief übergeben. Er besagte, dass die akademischen Voraussetzungen derzeit noch nicht geschaffen seien. Aber ich solle vorübergehend Karmapa unterrichten. Dieses Ansinnen lehnte ich ab, da ich es nicht als angemessen empfand. Zum einen dachte ich, dass ich nicht die Zeit für all die Belehrungen haben würde, die notwendig wären, um Karmapa auszubilden. Zum anderen war ich nur ein normaler Laienpraktizierender, während Karmapa ein hoher Lama war. Doch man hat lange mit mir argumentiert und darauf bestanden, dass ich bleibe. Also habe ich mich entschlossen es zu tun. Allerdings nicht als sogenannter Yongdzin, als Privatlehrer eines bewusst wiedergeborenen Lamas. Außerdem sagte ich, dass ich eine Unterkunft bräuchte und Mittel für meinen Lebensunterhalt. Unter diesen Bedingungen, so bot ich an, würde ich Karmapa vorübergehend unterrichten. So kam es, dass ich an dem glückverheißenden Tag, an dem Buddha das Rad des Dharma das erste Mal drehte (dem vierten Tag des sechsten Monats im tibetischen Mondkalender) anfing Karmapa zu unterrichten. Bist du zuvor schon dem 16. Karmapa in Tibet begegnet? In Tibet bin ich dem 16. Karmapa nicht begegnet. Vielmehr habe ich ihn in meinem Heimatdorf in Himachal Pradesh getroffen. Um das Jahr 1951 herum, als Indien gerade die Unabhängigkeit von Großbritannien erlangt hatte, war Gyalwa Karmapa in Indien auf Pilgerreise und kehrte von Khunu aus nach Tibet zurück. Zu dieser Zeit hatten wir noch keine befahrbare Straße, sondern nur einen Pfad für Maultiere. Ich glaube, viele Menschen brachten Karmapa damals Geschenke dar, er hatte fast 80 Säcke dabei. Vir Bhadra Singh, der König von Khunu, war Buddhist und ein Schüler meines Urgroßvaters. Er hatte Karmapa zu einer „Schwarze-Kronen“-Zeremonie und Ermächtigungen in seinen Palast eingeladen. Dort habe ich die Ermächtigung auf die „Vereinigung der drei kraftvoll-schützenden Manifestationen“ – „Drakpo Sumdrel“ erhalten. Karmapa bat den König auch um Hilfe für den Transport der vielen Säcke mit Geschenken. Dieser kam seiner Bitte nach und trug uns auf, sie im Gegenzug für einen Steuererlass an die Grenze zu bringen. Obwohl ich noch jung war, war ich unser Familienoberhaupt. Mit mir als Anführer der Gruppe brachten wir die Säcke also bis an die indisch-tibetische Grenze, wo mir Karmapas Assistent zum Dank ein paar heilige „schwarze Pillen“ gab. Was waren die ersten Themen beim Unterricht von Karmapa? Als ich Karmapa Trinle Thaye Dorje das erste Mal traf, war er 15 oder 16 Jahre alt. Ich schlug ihm vor, mit den Belehrungen des „Duda“ zu beginnen, dem „Debattieren als Grundlage“. Doch Karmapa hatte niemanden, mit dem er debattieren konnte. Daher begannen wir mit dem Text „Brief an einen Freund“ von Nagarjuna. Danach behandelten wir das Abhidharmakosha, Madhyamaka, Paramita usw. Warum sind Dharma-Studien wichtig? Reicht es nicht aus, zu meditieren, um Ergebnisse zu erzielen? Viele Menschen meditieren, auch Nicht-Buddhisten. Allerdings muss man den Schlüsselpunkt der Meditation kennen. Wir studieren das Dharma, um den Pfad der Befreiung zu gehen, ansonsten wäre das Dharma überflüssig. Man könnte jetzt denken, dass Meditation an sich das Allerwertvollste ist. Doch das ist nicht der Fall, denn sowohl Götter als auch bösartige Wesen meditieren. Unter dem Strich bedeutet das: Es ist nicht möglich erleuchtet zu werden, wenn wir ohne richtige Dharma-Belehrungen meditieren. Kann man denn Erleuchtung erlangen, wenn man nur das Dharma studiert? Nein. Man kann Buddhaschaft nicht ohne Meditation erreichen. Um mit einer Analogie zu sprechen, dem Essen eines Zuckerrohrs: Studieren ist wie das Essen der Schale des Zuckerrohrs. Meditation wie das Verspeisen des Inneren. Der echte Geschmack ist innen zu finden. Trotzdem muss man das Äußere abschälen, um den inneren Geschmack zu erfahren. Wissenschaftliches Erforschen des Zuckerrohrs kann zwar viele Erkenntnisse zutage bringen, aber nur die Zunge ist fähig zu schmecken. Ein Verständnis zu erlangen ist somit mentale Arbeit, den Geschmack zu schmecken, Aufgabe der Sinnesorgane. Wo tut sich die Lücke zwischen relativem und letztendlichem Verstehen auf? Wie kann man dort eine Brücke bauen? Es braucht keine Brücke zwischen letztendlicher und relativer Wahrheit. Der buddhistischen Philosophie entsprechend sind die letztendliche Wahrheit und die relative Wahrheit in ihrer Essenz gleich, auch wenn sie unterschiedlich bezeichnet werden. Es gibt viele philosophische Ansätze, die man nutzen kann, um das zu verstehen. Würde man allerdings nur auf die reinen Worte achten, würde man vielleicht ein wenig verstehen – aber nicht in der Lage sein, in die Tiefe dieser philosophischen Ansätze vorzudringen. Man hätte zwar ein bestimmtes Gefühl, doch das würde nicht in einer direkten Erfahrung wurzeln. Daher ist es unabdingbar, die eigene Analyse auf direkter Erfahrung aufzusetzen. Welche wichtigen Texte würdest du Westlern empfehlen? Wenn jemand richtig in die Mahayana-Praxis einsteigen will, eignet sich „Bodhicarya Avatara“ von Shantideva am besten. Was die Sutras betrifft, kann man mit den „Bodhisattva-Pitakas“ (Bodhisattva-„Körben“) arbeiten. Deren Kurzversion wären die „37 Übungen eines Bodhisattva“ von Gyalse Thogme Sangpo. Man kann sie in einem Tag oder sogar in einigen Stunden lesen – und sie enthalten die Essenz aller Methoden. Doch was die Ausübung dieser Lehren betrifft, kann man damit ein ganzes Leben oder sogar viele Leben zubringen. Wenn man tiefer einsteigen möchte, gibt es darüber hinaus noch viele Mantrayana Texte. Das KIBI ist jetzt ein offizielles Ausbildungsinstitut. Was ist deine Vision – als Präsident der Karmapa International Buddhist Society (KIBS) – für die Zukunft des KIBI? Früher hat das KIBI einen monastischen Lehrstil gepflegt und keinen akademischen. Der 16. Karmapa wollte es, soweit ich gehört habe, als ein internationales Studienzentrum etablieren. Da das KIBI früher von Khenpos und Mönchen geleitet wurde, war der Unterrichtsstil monastisch, und man hat Buddhismus für viele unterschiedliche Menschen gelehrt. Doch die Studenten kamen nicht in den Genuss einer offiziellen Anerkennung ihrer hier erworbenen Qualifikationen für ihre eigenen Studien. Mit dem Wunsch, ein mehr akademisches Umfeld zu entwickeln, bin ich mehrfach auf Shamar Rinpoche zugegangen. Jamgön Kongtrul Rinpoche hatte einen ähnlichen Wunsch. Wir hatten mehrere Treffen zu diesem Thema, doch leider ist Jamgön Kongtrul Rinpoche innerhalb weniger Tage nach einem dieser Treffen gestorben. Damit war das Projekt erst einmal gestoppt. Später, als ich Teil der Karmapa International Buddhist Society (KIBS) wurde, konnten wir das Institut offiziell anmelden – so wie es schon immer mein Wunsch war. Das erlaubt uns, eine formell anerkannte Ausbildung anzubieten und entsprechende Zeugnisse und Diplome auszugeben. Zum Start bieten wir jetzt einen Diplomstudiengang „Buddhistische Studien“ an. Wenn alles so verläuft wie geplant, werden wir das KIBI zu einem Buddhistischen Forschungszentrum weiterentwickeln. Doch noch wissen wir nicht, bis zu welchem Grad das möglich wird. Gibt es Unterschiede in der Art des Unterrichts für Westler? Müssen die Lehrmethoden der westlichen Mentalität angepasst werden? Ja. Zum einen wurde der Buddhismus von Buddha gelehrt, aber er verwendete dafür keine eigene Sprache. Sobald jemand das Dharma in einer bestimmten Sprache versteht, wird diese Sprache damit zur „Sprache Buddhas“. Das gilt für alle Sprachen. Versteht jemand das Dharma auf Tibetisch, dann wird Tibetisch zur Sprache Buddhas. Wenn sich die ganze Bedeutung der Lehren Buddhas in Englisch ausdrücken lässt, wird auch Englisch die Sprache Buddhas. Von daher hat sich der Buddhismus auch zu seiner Blütezeit in Indien unabhängig von Barrieren durch Sprache, Kasten und Ränge entwickeln können. Zum anderen steht jede Form von Spiritualität innerhalb spezifischer kultureller Kontexte. Es ist nicht wie in einer Gesellschaft mit starren Regeln dafür, wie man die Hüte zu tragen hat. Wenn der Buddhismus im Westen erblühen soll, muss er den kulturellen Kontext des Westens berücksichtigen und ihn nicht vernachlässigen. Möchte ein Künstler eine Buddha-Statue aus Stein herstellen, muss er die Kunst eines Steinmetzes beherrschen und nicht mit anderen Mitteln vorgehen. Möchte er eine Statue aus Gold herstellen, muss er die Mittel eines Goldschmiedes nutzen und nicht die eines Tischlers. Genauso muss Buddhismus in Übereinstimmung mit den kulturellen Kontexten verschiedener Gegenden gelehrt werden. Sonst gäbe es keinen Raum, um mit irgendjemand in Verbindung zu treten. Wenn man das tut, wird es anderen Menschen ermöglicht, die Lehren Buddhas innerhalb ihrer eigenen Kultur zu verstehen und zu verwirklichen. Das Interview wurde geführt von Dagmar Colombel im März 2014 im KIBI Neu-Delhi. Englische Übersetzung aus dem Tibetischen: Tsondru Dhargay Deutsche Übersetzung aus dem Englischen: Susanna Stern 1: Weisheitshalter 2: Kangyur – die direkten Worte Buddhas; Tengyur – die Kommentare der indischen Meister dazu Professor Sempa Dorje Professor Sempa Dorje wurde in der Nähe von Ladakh (Indien) geboren und entschied sich dafür, den Buddhismus in Tibet zu studieren. Nach Beendigung seiner Studien und der Invasion durch die Chinesen ging er zurück nach Indien. In Varanasi studierte er an der angesehenen Benares Sanskrit Universität. In Folge war er einer der wenigen tibetischen Gelehrten, die auch über einen westlichen Studienabschluss verfügten. So war er maßgeblich am Aufbau der tibetischen Universität in Sarnath beteiligt und wurde zu einem ihrer führenden Wissenschaftler. Nachdem er in den Ruhestand getreten war, zog er mit seinen Söhnen nach Kalimpong und wurde der Hauptlehrer des 17. Gyalwa Karmapa Thaye Dorje für buddhistische Philosophie und war als Dozent an der Kalimpong Shedra tätig. Seit 2012 ist er Präsident der KIBS India und Direktor des KIBI Neu-Delhi, an dem er regelmäßig unterrichtet. Seine Arbeitssprachen umfassen unter anderem Sanskrit, Pali, Tibetisch und Hindi, und er ist an vielen Übersetzungen beteiligt sowie Autor zahlreicher namhafter Bücher zur buddhistischen Philosophie und Religion. |
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