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BUDDHISMUS HEUTE
Aus: Buddhismus Heute Nr. 53, (Herbst 2013)

Die Meditation auf den 16. Karmapa

Peter Malinowski

Wohl für die meisten von uns war die Meditation auf den 16. Karmapa (früher auch Drei-Lichter-Meditation genannt) die erste Bekanntschaft mit den Meditationsmethoden des Diamantweg-Buddhismus. In allen von Lama Ole Nydahl betreuten Karma-Kagyü-Zentren ist sie die gemeinsame, regelmäßige Hauptpraxis, die in einigen Zentren täglich auf dem Programm steht. Nahezu jeder öffentliche Vortrag Lama Oles wird mit dieser Meditation beendet, wobei dann häufig an Stelle des 16. Karmapa die Form eines goldenen Buddhas erscheint, um auch jemandem, der noch nichts vom 16. Karmapa gehört hat, einen einfachen Zugang zu ermöglichen.

Können wir daraus, dass diese Meditation für viele am Anfang steht, schließen, dass es sich um eine Praxis für Anfänger handelt? Zitate verschiedener großer Meister zu diesem Thema, die auch in einer früheren Ausgabe von BUDDHISMUS HEUTE1 abgedruckt sind, deuten auf das Gegenteil. Als eine Form des Guru-Yogas – der Meditation auf den Lama – zählt sie zu einer Gruppe von Meditationen, die als die wichtigste und effektivste Praxis im Diamantweg-Buddhismus angesehen werden.

Aussagen unserer Vorväter König Indrabodhi, Saraha und Tilopa betonen ebenfalls, dass das Guru-Yoga die anderen Diamantweg-Methoden, und hier insbesondere den Weg der Mittel und den Weg der Einsicht, in sich vereint. Daher wäre es sicherlich falsch davon auszugehen, dass es sich "nur" um eine Anfängerpraxis handelt; vielmehr verkörpert das Guru-Yoga die Essenz aller Diamantweg-Methoden.

Wie die Meditation auf den 16. Karmapa deutlich zeigt, müssen solch effektive Methoden jedoch nicht kompliziert sein.

Nach einer kurzen Phase des Beruhigens beschäftigt man sich mit den vier grundlegenden Gedanken, die den Geist auf die Dharmapraxis ausrichten sollen und insbesondere dazu dienen, unsere Motivation und Überzeugung bezüglich unserer Praxis zu stärken. Danach erweckt man sein Vertrauen in das letztendliche Ziel des buddhistischen Weges, das Erkennen der perfekten Natur des Geistes, und ebenso in die verschiedenen Aspekte, die uns ermöglichen, dieses Ziel zu erreichen. Dem klassischen Aufbau unserer Meditationen folgend, würde dieser Zufluchtnahme nun eine Phase folgen, in der wir die erleuchtete Geisteshaltung (skt. Bodhicitta) in unserem Geist erwecken. In der Art und Weise, wie Lama Ole unsere Meditationstexte verfasst hat, ist dieser Aspekt jedoch schon in die vier grundlegenden Gedanken und in die Zufluchtnahme eingewoben: Wenn wir uns mit unserer Motivation beschäftigen und wenn wir uns für unsere perfekte Natur öffnen, ist Bodhicitta, der Wunsch zum Wohle aller Wesen Erleuchtung zu erlangen, schon natürlich inbegriffen und muss daher nicht als ein gesonderter Schritt in der Meditation erscheinen.

Ich denke, dass diese Herangehensweise unserem ganz natürlichen Zugang entspricht. Über die kostbare Möglichkeit, mit unserem Geist arbeiten zu können, nachzudenken, ohne dabei das Wohl aller fühlenden Wesen im Hinterkopf zu haben, würde vielen sicherlich gekünstelt und unvollständig erscheinen; und als letztendliches Ziel unseres Weges haben wir sicherlich auch nicht nur eigene Glückszustände vor Augen. Vielmehr erleben wir unsere Praxis als bedeutungsvoll, weil sie in uns die Fähigkeiten erweckt, anderen Wesen bei ihrer Suche nach dauerhaftem Glück zur Seite zu stehen.

Da die Einzelheiten zu den vier grundlegenden Gedanken und die Zufluchtnahme an anderer Stelle beschrieben sind, wollen wir uns hier jedoch vorrangig mit dem Hauptteil der Karmapa-Meditation beschäftigen, der auf die Zufluchtnahme und Entwicklung des Erleuchtungsgeistes folgt. Dieser Hauptteil kann in entweder zwei oder drei Phasen untergliedert werden.
Spricht man von zwei Phasen, dann unterscheidet man in Entstehungsphase (tib. kye rim) und Vollendungsphase (tib. dzog rim). In diesem Fall wird die Mantra-Phase als Teil der Entstehungsphase verstanden. Bei einer Unterteilung in drei Phasen wird sie dagegen als eigenständige Phase betrachtet.

Wie in allen vollständigen buddhistischen Meditationspraktiken kommen auch in der Karmapa-Meditation zwei Grundprinzipien zum Tragen. Bei dem ersten Prinzip geht es darum, einen stabilen, konzentrierten und unabgelenkten Geisteszustand zu entwickeln. Dies ist die Meditation des ruhigen Verweilens oder der Geistesruhe (tib. shine, skt. shamatha). Jede Meditation bei der wir versuchen, den Fokus unserer Aufmerksamkeit unabgelenkt auf einem äußeren oder inneren Objekt (oder objektlos) ruhen zu lassen, ist eine Shine-Meditation. Am bekanntesten sind hier sicherlich Meditationen, in denen der eigene Atem als Meditationsobjekt verwendet wird. Die durch die Praxis der Geistesruhe entwickelte Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit völlig unabgelenkt auszurichten, ist Voraussetzung für die erfolgreiche Anwendung des zweiten Prinzips, welches tiefe Einsicht, Einsichtsmeditation oder auch durchdringendes Sehen genannt wird (tib. lhaktong, skt. vipashyana). Das Ziel ist hier, letztendliche Einsicht in die Natur des eigenen Geistes zu erlangen.

In der Entstehungsphase der Meditation üben wir insbesondere das erste Prinzip, die Geistesruhe. Das Objekt der Meditation ist in diesem Fall jedoch nicht der Atem, sondern eine Form aus Energie und Licht, die wir geistig vor uns im Raum entstehen lassen. In dieser Meditation verwenden wir die Form des 16. Karmapa, wobei wir von vornherein versuchen zu verstehen, dass es trotz der Ausrichtung auf eine äußere Form eher um einen Geisteszustand geht – die Verwirklichung der Natur des Geistes – die sich in der Form Karmapas ausdrückt. An dieser Stelle ist es auch wichtig zu betonen, dass wir hier nicht versuchen, einen visuellen Eindruck von der Form Karmapas zu erzwingen. Der Begriff "Vergegenwärtigung" passt hier viel besser als das früher häufig verwendete Wort "Visualisierung". Der entscheidende Punkt ist unsere Gewissheit, dass Karmapa als Ausdruck der alles durchdringenden, perfekten Natur des Geistes immer gegenwärtig ist, wir uns nur seiner Gegenwart bewusst werden und dann in dieser Gewissheit verweilen können. Für manche mag dieser Prozess mit bildhaften Eindrücken verbunden sein, für andere dagegen nicht. Das Entscheidende ist jedoch unser tiefes Vertrauen, dass Karmapa – und die Qualitäten, die er verkörpert – vorhanden sind, wann und wo wir auch daran denken (und sogar wenn wir nicht daran denken).

Das Üben der Geistesruhe wird also mit dem Ausrichten auf und Öffnen für einen perfekten Geisteszustand verbunden, eines der geschickten Mittel, die den Diamantweg so effektiv machen. Doch damit nicht genug. Innerhalb der Entstehungsphase kommen wir nun an den Punkt, an dem wir versuchen zu verstehen und darüber hinaus auch zu erfahren, dass die erleuchteten Qualitäten Karmapas eigentlich unsere eigenen Qualitäten sind. Dies tun wir in Form einer so genannten Selbsteinweihung. Während üblicherweise für eine Einweihung in einen Buddha-Aspekt geistige Verwirklichung des Lehrers und Offenheit des Schülers in formalisierter oder ritueller Weise in Verbindung gebracht werden, kann eine Selbsteinweihung allein durch das Vertrauen des Übenden in die perfekten Qualitäten des Lehrers stattfinden.

Dazu sagt Rigdzin Jigme Lingpa , einer der größten und wichtigsten Lehrer der Dzogchen-Linie im 18. Jahrhundert:

"Deinen eigenen Geist durch die vier Ermächtigungen mit dem Geist des Lamas zu vermischen und dann entspannt in diesem Zustand zu verweilen, ermöglicht es, dass der Segen des Lamas in den eigenen Geist eintritt. So werden der eigene Geist und der Geist des Lehrers untrennbar."

Wie Jigme Lingpa hier ausdrückt, findet die Selbsteinweihung in Form von Ermächtigungen in die vier Buddha-Zustände statt. Diese Buddha-Zustände stellen die Verwirklichung der Natur des Geistes dar und werden als Wahrheitszustand (skt. dharmakaya, tib. tschö ku), Freudenzustand (skt. sambhogakaya, tib. long ku), Ausstrahlungszustand (skt. nirmanakaya, tib. tul ku) oder auch Mitgefühlszustand, sowie Wesenszustand (skt. svabhavikakaya, tib. ngowo nyigi ku) bezeichnet. Diese Zustände sollten jedem, der schon einmal einem Vortrag von Lama Ole gelauscht hat, bekannt sein. "Der Geist ist offen, klar und unbegrenzt" fasst die Erkenntnis der ersten drei Buddhazustände in einem Satz zusammen. Obwohl wir solche Aussagen, die die tiefgründigsten Erkenntnisse über die Natur des Geistes zum Ausdruck bringen, am besten verwirklichten Meistern überlassen, die wirklich aus abgesicherter Erfahrung sprechen können, ist es an dieser Stelle sinnvoll, diese Aussage in Beziehung zur Karmapa-Meditation zu setzen. Der Wahrheitszustand ist die Erkenntnis, dass der Geist alles durchdringender Raum ist, der alle Möglichkeiten in sich hält und zur Verwirklichung von Furchtlosigkeit führt. Aus dieser Erkenntnis heraus werden alle Eindrücke im Geist als Ausdruck seiner unendlichen Möglichkeiten erfahren, was als Freudenzustand, als Zustand höchsten Glücks, beschrieben wird.
Weiterhin drückt sich die Erkenntnis der Natur des Geistes als sinnvolle, liebevolle Tat aus. Erlebt man die Unbegrenztheit des Geistes, ist der Wunsch aller Wesen nach Glück stets präsent und nutzbringende Handlungen entspringen mühelos als Ausdruck des Ausstrahlungszustandes. Die alles abrundende und letztendliche Erkenntnis ist die, dass diese verschiedenen Zustände des erleuchteten Geistes ihrem Wesen nach gleich sind, was als Wesenszustand bezeichnet wird.

Lama Ole Nydahl verwendet hier ein sehr treffendes Beispiel: "Wenn der Raum als Wissen mit dem Wasserdampf verglichen wird, der unsichtbar überall ist, Raum als Klarheit mit den Wolken, die sich daraus bilden und spielerisch vorbeiziehen, und Raum als sinnvolle Tat mit dem Regen, der alles wachsen lässt: Trotz der Unterschiede in ihrer Erscheinung sind sie alle Wasser – H2O. Dies ist der Wesenszustand,..."

Bei der Selbsteinweihung in diese Zustände geht es darum zu verstehen, dass diese Merkmale des erleuchteten Geistes, die wir im Geist unseres Lehrers dingfest machen können, tatsächlich Qualitäten unseres eigenen Geistes sind. Wenn Karmapa nun in der Meditation nacheinander klares, rotes und blaues Licht aus Stirn, Kehle und Herzzentrum in unsere drei Energiezentren schickt, dann geht es genau um diese Erkenntnis.

Mit dem klaren Licht, welches aus Karmapas Stirn in unsere Stirn strahlt, wird bei uns die Fähigkeit erweckt, den Ausstrahlungszustand zu verwirklichen. Das Verhältnis zu unserem Körper ändert sich und er wird mehr und mehr zu einem Werkzeug unseres Mitgefühls, das wir verwenden, um die verschiedenen Buddha-Aktivitäten auszuführen.

Das rote Licht, das aus Karmapas Kehlzentrum in unser Kehlzentrum ausstrahlt, erweckt in uns die Fähigkeit den Freudenzustand, die Klarheit unseres Geistes, zu verwirklichen. Wir werden mehr und mehr fähig, den spielerischen Reichtum des Geistes zu erleben und auszudrücken.

Das blaue Licht, das von Herzzentrum zu Herzzentrum strahlt, erweckt die Einsicht des Wahrheitszustandes. Vorstellungen von einem dauerhaft bestehenden und unabhängigen Selbst als letztendlichem Bezugspunkt all unserer Erfahrung lösen sich auf und ebenso Vorstellungen von dauerhafter Existenz in der äußeren Welt. Statt von der Welt der Begriffe und Vorstellungen eingeschränkt zu sein, erleben wir den Raum, der alle Begriffe und Vorstellungen enthält und ermöglicht und verwirklichen den Wahrheitszustand.

Wenn als vierte Stufe dann alle drei Lichter gleichzeitig in uns hineinstrahlen, so erfolgt die Einweihung in den Wesenszustand, der letztendlichen Natur unseres Geistes. Die Untrennbarkeit der Buddha-Zustände kommt so als die im Großen Siegel vereinten erleuchteten Qualitäten Karmapas zu uns.

Wie ist es überhaupt möglich, dass wir mit unserem begrenzten Verständnis im Kämmerlein sitzend in der Lage sind, in uns selbst die Qualitäten der Erleuchtung zu erwecken? Der erste Grund ist natürlich, dass dies nur funktioniert, weil diese Qualitäten schon immer vorhanden waren, wir dem Geist nichts Fremdes hinzufügen müssen. Doch offenbar ist dieser eine Punkt in sich selbst nicht genug; sonst wären wir schon lange erleuchtet. Was noch dazu kommen muss, ist ein qualifizierter Lehrer, der in der Lage ist, in uns das tiefe Vertrauen zu wecken, dass diese Buddha-Qualitäten tatsächlich die Natur unseres Geistes sind. Solange wir auf unsere eigenen Vorstellungen von erleuchteten Qualitäten angewiesen sind und nur das eine oder andere Buch gelesen haben, das versucht, uns eine Idee von der Natur des Geistes zu vermitteln, schmoren wir im Saft unserer eigenen, intellektuellen, begriffsbestimmten Vorstellungen. Da unser Ziel jedoch ist, jenseits von Begriffen und Vorstellungen die grundlegende Natur des Geistes zu erkennen, brauchen wir jemanden, der uns einen lebendigen Eindruck davon gibt, was diese erleuchteten Qualitäten wirklich bedeuten. Was wir als Segen bezeichnen, ist genau das. Es ist die Fähigkeit des Lehrers, uns auf unsere erleuchteten Qualitäten in einer Weise aufmerksam zu machen, die jenseits von einer begrifflichen Beschreibung geht und auf tiefen Ebenen unseres Erlebens zu einer Gewissheit führt. Wenn ein Lehrer seine Furchtlosigkeit, Freude und sein aktives Mitgefühl in direkter Weise mit uns teilt, kommen uns so die Erfahrungen vom Wahrheits-, Freuden-, und Ausstrahlungszustand näher und gehen unter die Haut.

Das Guru-Yoga bekommt also erst dadurch seine volle Kraft, dass es mit einer lebendigen Erfahrung von den erleuchteten Qualitäten des Geistes verbunden wird. So kommt ein sich selbst verstärkender Vorgang in Bewegung. Unsere Offenheit für die Qualitäten des Lehrers führt zu tieferen Erfahrungen in der Meditation, und diese Erfahrungen in der Meditation führen dazu, dass wir die Qualitäten des Lehrers deutlicher erleben, was unsere Offenheit und unser Vertrauen weiter anwachsen lässt. Dieser wechselseitige Prozess ist somit Ausdruck des zunehmenden Vertrauens in die perfekten Buddha-Eigenschaften. Schauen wir auf den Lehrer, erleben wir die Qualitäten außen, schauen wir in Meditation auf den eigenen Geist, erleben wir sie innerlich. Letztendlich erkennen wir dann auch, dass sich diese Unterscheidung in außen und innen nicht aufrechterhalten lässt.

Eine andere Weise, die Wirkung der Lichter in der Meditation auszudrücken, ist darauf zu schauen, welche Störungen und Einschränkungen durch sie beseitigt werden. Dies ist die andere Seite der Medaille. Ob wir es als Wegfallen von Störungen oder als Erwecken von erleuchteten Eigenschaften ausdrücken, der Effekt ist genau der gleiche. In der Art und Weise, wie die Meditation verfasst ist, kommen tatsächlich beide Zugangsweisen zum Tragen. Wir erleben, wie mit dem jeweiligen Licht alle Störungen von Körper, Rede und Geist aufgelöst und wie gleichzeitig die verborgenen Qualitäten erweckt werden.

Nachdem also mit den Lichtern die vier Buddha-Eigenschaften aktiviert werden, folgt die Mantra-Phase. Hier wird die erweckte Erfahrung noch durch die Verwendung einer erleuchteten Schwingung – das Mantra – untermauert. Buddhistische Mantras drücken die vollkommenen Qualitäten eines Buddha-Aspektes auf Schwingungsebene aus. Bei der Meditation auf Karmapa wird durch das Mantra KARMAPA TSCHENNO besonders seine freudvolle Buddha-Tatkraft angesprochen.
Während das Mantra wiederholt wird, versucht man daher so gut es geht, in dem Vertrauen und der Gewissheit zu ruhen, dass die eigenen und Karmapas Qualitäten nicht verschieden sind und zu erleben, wie die Fähigkeit, den Wesen in letztendlicher Weise zu nutzen, immer mehr heranwächst.

Auf die Mantra-Phase folgt nun die Vollendungsphase, in der sich jede Trennung in Erleuchtung innen und außen auflöst.

Karmapas Form wird zu Regenbogenlicht, welches auf uns und die ganze Welt strahlt und jede feste Vorstellung von Form verschwinden lässt. In der Gewissheit, dass der Geist untrennbar von Karmapa und allesdurchdringender, wissender Raum ist, verweilt der Geist ohne jeglichen Bezugspunkt in sich selbst.

In dieser Phase der Meditation kommt das zweite Prinzip buddhistischer Meditationen vollständig zum Tragen, die tiefe Einsicht in die Natur aller Dinge, auf die hier, basierend auf grundlegendem Vertrauen in die Wahrheitsnatur unseres Geistes, in direkter Weise abgezielt wird. Der wichtige Punkt an dieser Stelle ist, diesen Abschnitt der Meditation nicht künstlich auszudehnen, sondern nur so lange in ihm zu verweilen, wie die Erfahrung wirklich direkt und frisch ist. Ansonsten, so raten unsere Meditationsmeister, besteht die Gefahr, dass man anstatt die strahlende Klarheit des Geistes zu kultivieren, neue starke Gewohnheiten unklarer Wahrnehmung und Dumpfheit aufbaut.

Dem Hauptteil der Meditation schließt sich nun die Phase an, in der es darum geht, die in der Meditation erlebte Gewissheit in unser Erleben im Alltag zu übernehmen. Hier geht es darum, sich völlig bewusst dafür zu entscheiden, die Welt mit der höchstmöglichen Sichtweise zu erleben. Wiederum hilft uns der direkte Kontakt mit einem realisierten Lehrer sehr. Durch sein lebendiges Beispiel bekommen wir eine Idee, was es wirklich bedeutet, "sich wie ein Buddha zu benehmen, bis man ein Buddha geworden ist". Durch diese Phase wird unsere Meditation tatsächlich bedeutsam. Durch die bewusste Entscheidung, die Meditationserkenntnisse in den "Alltag" zu übernehmen, die Welt als bedeutungsvoll und voller Möglichkeiten zu erleben und in unseren Mitmenschen ihr Potenzial zu sehen, anstatt an Unvollkommenheiten festzukleben, üben wir die erleuchtete Buddha-Sichtweise.

Als allerletzten Schritt machen wir nun die ganze Erfahrung grenzenlos, indem wir es nicht für uns behalten, sondern dem Wohle aller Wesen widmen.

Nach diesem kurzen Überblick über Ablauf und Bedeutung der Karmapa-Meditation bleibt noch die Frage offen, warum ausgerechnet der Karmapa in dieser Meditation erscheint. Ein Grund ist, dass wir im Guru-Yoga den Lama verwenden, der uns die erleuchteten, vollkommenen Geisteszustände in bestmöglicher und direktester Weise nahe bringen kann. Für Praktizierende in der Karma-Kagyü-Linie ist dies sicherlich der 16. Karmapa Rangjung Rigpe Dorje. Er repräsentiert den Zugang zu der gesamten Verwirklichung, die durch die in dieser Linie übertragenen Methoden erreicht werden kann. Er steht als Inspiration hinter der Aktivität von Lama Ole und Hannah und auch alle anderen Karma-Kagyü-Lehrer können als Fortsetzung seiner Aktivität verstanden werden. Zudem hat der 16. Karmapa die Meditation an Lama Ole mit dem Wunsch übertragen, sie im Westen zu vermitteln und dabei immer so frisch und zeitgemäß zu halten, dass sie den größtmöglichen Nutzen bringen kann.

Nochmals sei hier betont, dass es in diesem und allen anderen Guru-Yogas stets um den Geisteszustand des Lehrers und nicht um die lebende Person Karmapa geht. Dennoch hilft es sehr, uns auf eine menschliche Form als Ausdruck der erleuchteten Qualitäten auszurichten. Denn wenn wir in der Lage sind, die verwirklichten Buddhazustände in einer anderen menschlichen Form zu sehen, dann sind wir nicht mehr so weit davon entfernt, sie auch bei uns selbst zu entdecken.

Wie ich versucht habe zu zeigen, handelt es sich beim Guru-Yoga um ein äußerst geschicktes Mittel, welches als die Quintessenz aller Diamantweg-Methoden verstanden werden kann. Dass wir die Möglichkeit haben, mit einem derart effektiven Mittel so früh in unserer buddhistischen "Karriere" in Berührung zu kommen, ist ein weiteres Markenzeichen der Karma-Kagyü-Linie und Ausdruck der Vision Karmapas und Lama Oles. Der Mahamudra-Sichtweise folgend, bauen wir unsere Erleuchtung von oben herab mit dem Kran, und beginnen unmittelbar damit, uns mit dem Wesen des Geistes zu identifizieren. Zusätzlich verwenden wir dann Mittel wie die Grundübungen, die Schwierigkeiten ausräumen und die notwendigen Bedingungen zusammenbringen, wirklich in der Natur des eigenen Geistes zu verweilen. Im letzten Teil der Grundübungen schließt sich dann der Kreis und man kommt wiederum zur Guru-Yoga-Praxis, die in vielen Aspekten der Meditation auf den 16. Karmapa ähnlich ist. Innerhalb der Grundübungen gibt es jedoch den zusätzlichen Schwerpunkt der Praxis, sich der Bedeutung der Übertragungslinie für unsere Entwicklung bewusst zu werden und Dankbarkeit zu entwickeln. Diese Dankbarkeit beruht auf dem Verständnis, dass es ohne den grenzenlosen Einsatz der verschiedenen erleuchteten Meister nicht möglich gewesen wäre, jetzt in so unkomplizierter Weise mit den Diamantweg-Methoden in Berührung zu kommen.
Jeder einzelne von ihnen war ein Garant dafür, dass die Mittel, die mit der direkten Identifikation mit Erleuchtung arbeiten, in ungebrochener, lebendiger Weise übertragen wurden. Durch ihre eigene Realisation haben sie von Generation zu Generation den Methoden das Siegel der Authentizität verliehen.

Tatsächlich finden wir im Aufbau von Gampopas Werk "Juwelenschmuck der Befreiung" eine ähnliche Herangehensweise, wie Lama Ole sie uns rät. Auch dieser klassische Text beginnt im ersten der insgesamt 21 Kapitel mit der Feststellung, dass die Grundlage unseres Entwicklungsweges das Vorhandensein der Buddha-Natur ist. Von diesem höchstmöglichen Zugang aus wird in den folgenden Kapiteln dann in detaillierter Weise der stufenweise Weg zur Erleuchtung, wie er in Karma-Kagyü-Linie praktiziert wird, dargelegt.

Wie wird nun die Meditation auf den 16. Karmapa ganz praktisch verwendet? Wie schon beschrieben, ist diese Meditation für viele die erste Bekanntschaft mit dem Diamantweg-Buddhismus und kann als solche auch die erste Praxis sein, auf die man sich intensiv und regelmäßig einlässt.
Wie bei allen Meditationen liegt die Hauptbetonung hier auf regelmäßig. Ohne diese Regelmäßigkeit wird es schwierig sein, die erwünschten Resultate zu erlangen, da sich unsere enorm starken, und tiefsitzenden Gewohnheiten durch gelegentliches Meditieren kaum auflösen werden. Die Karmapa-Meditation ist kompakt genug, um sie in nicht mehr als 15 Minuten durchgehen zu können, obwohl längere Meditationssitzungen natürlich einen größeren Nutzen bringen werden. Es ist jedoch mit Sicherheit nützlicher, jeden Tag für 15 Minuten zu meditieren, als alle paar Monate ein ganzes Wochenende zu investieren. Denn ohne eine Gewohnheit aufgebaut zu haben, wird es schwierig sein, ein ganzes Wochenende mit intensiver Praxis zu verbringen.

Für viele werden sich an die erste Bekanntschaft mit der Karmapa-Meditation die "Kurze Zufluchtsmeditation" und dann die Grundübungen anschließen. Wem dieses Paket jedoch momentan zu gewaltig erscheint oder wer aus anderen Gründen nicht mit den Grundübungen beginnen möchte, kann durchaus auf längere Sicht bei der Karmapa-Meditation bleiben. Wie erklärt, handelt es sich um eine vollständige und höchstwirksame Diamantweg-Meditation, die ohne Zweifel erleuchtete Qualitäten in uns wecken kann.

Egal in welcher Weise die Meditation geübt wird, gibt es zusätzlich die Möglichkeit, den Kernpunkt der Karmapa-Meditationen während kurzer Lücken im geschäftigen Alltag zu verwenden. Eine Pause von vielleicht nur zwei Minuten reicht aus, um Karmapa vor uns im Raum entstehen zu lassen, die Lichter von ihm aufzunehmen, ein paar Mantras zu wiederholen, mit ihm zu verschmelzen und diese Erfahrung bewusst in unser Erleben zu übernehmen. In dieser Weise erwecken wir Karmapas erleuchtete Eigenschaften immer deutlicher in uns und werden fähig, sie in unserem täglichen Leben und Erleben auszudrücken. Die einzige Voraussetzung dafür, die Meditation in dieser Weise zu üben, ist, vorher Zuflucht genommen zu haben, damit die Praxis durch den richtigen Rahmen abgesichert ist. Am besten wird dies gemacht, indem man morgens gleich nach dem Aufwachen Zuflucht nimmt. Danach ist es möglich, Karmapa zu jedem Zeitpunkt im Raum entstehen zu lassen und sich dadurch so häufig wie möglich auf die eigene erleuchtete Natur aufmerksam zu machen.

Irgendwann ist dann die Gewissheit, dass jeder wirklich die Buddha-Natur hat und der Geist nicht verschieden von Karmapas Geist ist, so stark und natürlich geworden, dass man einfach in ihr verweilen kann.

1: Ausgabe Nr. 24 


Peter Malinowski,
geb. 1964, promovierter Diplompsychologe, Dozent für Psychologie an einer der Universitäten in Liverpool, untersucht dort Meditation aus psychologisch-wissenschaftlicher Sicht. Seit 1990 Schüler von Lama Ole Nydahl, bis 1998 Aufbau des Zentrums in Braunschweig, danach Mitarbeit im Zentrum Konstanz.
Seit 2001 Aufbau des Zentrums Liverpool, Reiselehrer seit 1994.