HOME 0 ARCHIV 0 BUDDHISMUS ABO NACHBESTELLUNG IMPRESSUM KONTAKT
BUDDHISMUS HEUTE
Aus: Buddhismus Heute Nr. 53, (Herbst 2013)

"Ein vollkommener Bodhisattva..."

Interview mit Shamar Rinpoche

In der letzten Ausgabe der Buddhismus Heute wurde das aktuelle Buch von Shamar Rinpoche vorgestellt. Jonathan Bradley, Redakteur der amerikanischen Buddhism Today, führte dazu ein Interview mit Shamar Rinpoche.

Der 10. Karmapa Tschöying Dorje (1604-1674), ein vollkommener Bodhisattva und Künstler, lebte in einer Zeit von atemberaubenden Umwälzungen in Tibet. Mit dem Erscheinen des mächtigen 5. Dalai Lama und der von ihm ins Land geholten mongolischen Truppen stieg zu seiner Lebenszeit die Gelugpa-Schule zur Macht über Tibet auf. Trotz dieser faszinierenden Periode der tibetischen Geschichte ist bisher über das Leben des 10. Karmapa im Westen nicht viel bekannt.

Shamar Rinpoches Buch "A Golden Swan in Turbulent Waters: The Life and Times of the 10th Karmapa Choying Dorje" erzählt die Geschichte des 10. Karmapa und Shamar Rinpoches Bericht ist in zweierlei Hinsicht tiefgründig: Zum einen betont er die Kraft des 10. Karmapa als Bodhisattva, der sich in dieser Phase politischer Unruhen unter Buddhisten völlig unpolitisch verhielt. Zum anderen ist Shamar Rinpoche die 14. Inkarnation der Shamarpas und steht damit in der Übertragungslinie des 6. Shamarpa, dem Lehrer und Guru des 10. Karmapa.

Shamar Rinpoche, was war der Anlass für dich, dieses Buch über den 10. Karmapa zu schreiben?


Ursprünglich schrieb ich das Buch für die Bodhi Path Zentren. Der Lebensweg des 10. Karmapa ist sehr faszinierend, denn er war ein einzigartiger Bodhisattva und wird unter den vielen Lamas als der vollkommene Bodhisattva angesehen. Buddhistische Lamas reden immer sehr viel über Mitgefühl und Selbstlosigkeit. Wir sollen nicht selbstbezogen sein und fragen uns dann, wie man ein selbstloser Bodhisattva werden kann? Viele großartige Bodhisattvas können uns ein Beispiel dafür zeigen. Der 10. Karmapa zum Beispiel war unbegründeten Vorwürfen ausgesetzt, aber es kümmerte ihn überhaupt nicht.
Es störte ihn überhaupt nicht und er genoss einfach seine Bodhisattva-Praxis. Obwohl er in ungerechtfertigter Weise beschuldigt wurde, führte er einfach seine Bodhisattva-Praxis fort und dadurch ist er ein gutes Vorbild für uns.

Im Buch gibt es folgende Aussage über den 10. Karmapa: Gleichgültig, ob er gelobt oder kritisiert wurde, er war nie davon beeinträchtigt. Das war ein Zeichen seiner Verwirklichung.

Ja, das ist ein Zeichen dafür, dass er von Bodhicitta, dem Bodhisattva-Geist, vollkommen durchdrungen war. Es war nicht von irgendwoher sich angeeignet, sondern er hatte es sozusagen im Blut.

War er – als Karmapa – bereits damit geboren worden?

Nein, er hatte es auch durch sein Training, nicht nur weil er der Karmapa war. Aus der spirituellen Perspektive kann man vielleicht schon sagen, dass er es sowieso schon hatte, weil er eben Karmapa war. Aber aus weltlicher Sicht gesehen, konnte er diese Qualitäten zeigen, weil er so erzogen worden war.

War das der Einfluss seines Wurzellamas, des 6. Shamarpa?

Ja, Shamarpa hatte ihn so erzogen, weil es seine Methode war. Er schulte Karmapa vor allem darin, ein qualifizierter Bodhisattva und nicht so sehr darin, ein Gelehrter zu werden. Der 6. Shamarpa selbst war ein großartiger Gelehrter, aber er erzog Karmapa nicht in dieser Weise, sondern als reinen Bodhisattva.
Das war auch der Grund dafür, dass er zum Beispiel als Thema seiner Belehrungen an Karmapa immer die Lebensgeschichte Buddhas wählte. Shamarpa lehrte immer darüber, wie Buddha den Bodhisattva-Weg gegangen war. Es lag bereits in Karmapas Wesen, als noch ein kleines Kind war und Shamarpa trainierte ihn dementsprechend.

Er sah also, dass es nützlicher war, Karmapa in dieser Weise zu schulen, als viel Zeit mit Texten und Philosophie zu verbringen?

Es scheint so.

Das geschah zu einer historisch interessanten Zeit, vor allem durch die politische Situation mit den Mongolen und dem 5. Dalai Lama und den vielen Missverständnisse zwischen den Gelugpas und den Kagyüs.

Nein, der Kampf fand nicht zwischen den Schulen der Gelugpas und der Kagyüs statt. Es waren Kämpfe zwischen den Administratoren der Lamas, es ging um Hierarchie und Prestige. Ein Auslöser war, dass Jahre zuvor der 3. Dalai Lama den 9. Karmapa aufgesucht und sich vor ihm verbeugt hatte. Die Verwaltung erwartete, dass Karmapa von seinem Thron steigen und den Dalai Lama unten empfangen würde, aber das tat er nicht. Karmapa auf dem Thron war damals ein Junge, ungefähr acht Jahre alt, und er wurde als der höchste Lama Tibets angesehen. Er hatte die Krönung des Königs von Tsang veranlasst, so dass die Regierung von Tsang dadurch in Verlegenheit gebracht wurde, dass er nicht vom Thron stieg, um den 3. Dalai Lama zu empfangen.
Es ging nur um das Protokoll, es war kein Kampf zwischen den Schulen, es waren keine religiösen Kämpfe, es war ein Kampf zwischen den Hierarchien.

Waren Karmapa oder der Dalai Lama selbst darin verwickelt?
Haben sie sich jemals gegenseitig beleidigt? Oder spielte sich das ausschließlich zwischen ihren Verwaltungen ab?


Ich weiß nicht, was der 3. Dalai Lama dazu sagte, aber der 4. Dalai Lama fühlte sich nicht davon betroffen. Wenn ein Lama gestorben ist, sollte seine Wiedergeburt nicht in solche Dinge hineingezogen werden. Der 3. Dalai Lama war gestorben und der 4. Dalai Lama war ein neuer Mensch. Es war nicht der 4., sondern der 3. Dalai Lama, der beleidigt wurde. Aber seine Administratoren waren der Ansicht, es läge automatisch in der Verantwortung des 4. Dalai Lama, sich dafür zu rächen.

Der Administration war also dieser Unterschied zwischen dem 3. und 4. Dalai Lama nicht bewusst und sie hegte immer noch einen Groll?

Sie nahmen es dem 9. Karmapa übel, wie er den Dalai Lama behandelt hatte, denn es hatte sich für ihr Prestige sehr schlecht erwiesen. Der 9. Karmapa saß auf dem Thron und der 3. Dalai Lama verbeugte sich vor ihm auf dem Boden. Sie konnten es nicht ertragen und fassten es als Bedrohung ihres Ansehens auf. Es war sehr kleingeistig. Für die meisten Menschen war das Ereignis unwichtig, nicht aber für die Administration.

Könnte das der Grund dafür gewesen sein, die politische Allianz mit den Mongolen einzugehen und um die Macht in Tibet zu übernehmen?

Das wäre so, als würde ich von jemandem schlecht behandelt werden und alle Leute um mich herum hätten darunter zu leiden. Einmal angenommen, der Dalai Lama würde mich schlecht behandeln, sagen wir, er würde mich zwingen, ein Stück Müll aufzuheben und ihm dieses zu bringen. Daraufhin wäre meine Administration sehr wütend. Um sich zu rächen, würden sie mit China kollaborieren, eine Armee herbeirufen und den Dalai Lama bekämpfen. Wäre das anständig? Nein, überhaupt nicht. Es wäre weder gut für das Land noch für all die Wesen und Menschen dort.
Zu der in dem Buch beschriebenen Zeit wurde das auch nicht als richtig angesehen, aber sie taten es trotzdem, denn aus ihrer Sicht wurden sie alle, zusammen mit ihrem Boss, unterminiert – es beeinträchtigte ihre Macht. Sie waren alle sehr stolz und ambitioniert und wollten mit Hilfe des Namens ihres Gurus Macht bekommen. Deswegen holten sie dann die Mongolen ins Land, was all den Wesen, dem Land und den Menschen nicht Gutes brachte. Aber sie taten es trotzdem – weil sie wütend waren.

Waren Karmapa und der Dalai Lama selbst daran beteiligt?

Die Lamas hatten nicht diese Art von Macht. Sie waren kleine Buben, die in diese Funktion eingesetzt wurden. Ein Junge weiß nicht viel darüber, was seine Eltern zu tun entscheiden. Wenn er dann erwachsen wird, ist er jedoch in der Situation gefangen, er steckt völlig in der Falle. Solche Dinge geschahen oft in der tibetischen Geschichte.

Saß der 5. Dalai Lama in der Falle?

Natürlich.

Obwohl er – zum ersten Mal in der tibetischen Geschichte – der spirituelle und politische Führer dieser Kultur wurde?

Natürlich. Er wurde zuerst spiritueller Führer in der Gelugpa-Schule, später auch politischer Führer. Dann wurde seine Administration immer ambitionierter.

Wir kritisieren also nicht den damaligen Dalai Lama selbst, sondern seine Administration?

Dass wir ihn nicht kritisieren, hat keine diplomatischen Gründe, sondern es trug sich so zu. Der 5. Dalai Lama war gefangen. Er hätte da irgendwie durchschneiden müssen, aber wie hätte er das tun können, wo doch so viele Menschen davon betroffen gewesen wären?

Viele Menschen waren von seinem Ansehen abhängig.

Ja, das waren sie. Es gab viele Zweigklöster mit vielen Administratoren. Sie alle waren davon betroffen.

Hat er nicht durchgegriffen, weil er versuchte, den Menschen zu helfen, die ihn in die Falle gelockt haben? Hier im Westen sehen wir es so, dass derjenige an der Spitze auch die Verantwortung trägt.

Das war eine ganz andere Ära, es war mittelalterlich, nicht die Neuzeit. Nirgendwo gab es damals ein demokratisches System auf der Welt.

Es wäre falsch zu sagen, dass der 5. Dalai Lama die Verantwortung dafür trug, was seine Administration tat?

Er selbst sagte tatsächlich, dass er nicht wollte, dass die mongolische Armee nach Tibet kam.

Es geschah gegen seinen Willen?

Er konnte es nicht verhindern, weil seine Administratoren damals so mächtig waren.

Der 5. Dalai Lama saß also in der Falle, und der 10. Karmapa war frei?

Ja, Karmapa war frei, denn er konnte alleine umher reisen. Er führte ein freies Leben, reiste alleine in Nepal und umgebenden Ländern.

Wird Bodhisattva-Aktivität, so wie der 10. Karmapa sie vorgelebt hat, am besten außerhalb der Gesellschaft ausgeführt?

Der 10. Karmapa hielt seinem starken Bodhisattva-Geist aufrecht. Wenn man sich als Bodhisattva bezeichnet, sollte man auch wirklich so handeln.

Und dabei nicht in der Welt eingebunden sein?

Man kann in der Welt eingebunden sein, aber man sollte nie zornig werden. Der 10. Karmapa hatte keinen Zorn.

Er war also nicht gefangen...

Von seinen eigenen Emotionen.

Karmapa erschuf viele Kunstwerke für seine Schüler. Oft malte er Buddha und die 16 Arhats. Diese Malereien werden oft erwähnt. Liegt eine besondere Bedeutung darin, dass er das so oft malte und so vielen Menschen gab?

Alles was er malte, war sehr bezaubernd. Mit diesem Gemälde wollte er Frieden ausdrücken. Es gibt viele Bedeutungen dazu, aber vor allem wollte er eine mitfühlende und friedliche Umgebung zeigen. Das ist, was er am meisten malte: friedliche Umgebungen.

Gibt es Parallelen zu der heutigen Zeit, in der wir viel Politik in der Linie haben?

Es geht immer noch um Prestige. Das geht immer weiter, wir haben das immer noch. Die meisten Menschen sind heutzutage sehr naiv, und ein spiritueller Lehrer kann sie sehr leicht in die Irre führen. Viele Menschen mögen den Buddhismus, aber sie sind sehr gutgläubig. Die meisten Menschen auf der Welt sind sehr leicht zu täuschen. Auch in der chinesischen Gesellschaft sind die Menschen sehr leichtgläubig, sehr naiv. Spirituelle Führer nutzen das aus und führen sie leicht in die Irre. In Europa und den USA gibt es viele Beispiele dafür, wie leicht es für spirituelle Führer ist, die Menschen in die Irre zu führen, weil die Menschen wirklich naiv sind.

Es kommt vor, dass sehr kritische Westler den Buddhismus als perfekt ansehen wollen. Wenn sie mitbekommen, dass es auch im Buddhismus Politik gibt, werden sie entmutigt.

Es gibt nur eine Handvoll kritischer Leute, die Mehrheit ist leicht zu täuschen. In den USA zum Beispiel gibt es diesen Star-Kult. Es ist ganz leicht: Wenn ich eine Berühmtheit als Schüler habe, hält jeder mich deswegen für großartig. Die amerikanische Gesellschaft ist leicht zu täuschen, ich weiß das.

Was soll man kritischen Menschen sagen, die sich die tibetische Geschichte anschauen? Sie könnten ja Bewunderung für die Qualitäten von Bodhisattvas wie Karmapa und Shamarpa haben?

Dass es tibetischer Buddhismus ist, macht es noch lange nicht zum unfehlbaren Buddhismus. Den Tibetern ging es oft vor allem um Macht und Geld. Ich denke, Buddhismus sollte nicht im Rahmen der Geschichte der Menschen vorgestellt werden, sondern durch die Lehren Buddhas. Menschen sollten kein Ideal im buddhistischen Sinne sein, außer es sind Menschen wie Milarepa. Er hielt die Lehren und er praktizierte, und in dieser Weise ist er ein Beispiel.

Wäre denn der 10. Karmapa ein Beispiel?

Ja, er war ein Bodhisattva. Kein Historiker, auch nicht der 5. Dalai Lama in seiner Autobiographie, hat das bestritten. Er war ganz und gar bodenständig und hatte mit vielen normalen Menschen wie Bettlern usw. Verbindung. Er war auch von Frauen umgeben – und wurde dafür aber als Lama weniger respektiert.

Der 6. Shamarpa und der 10. Karmapa standen sich sehr nah. Heutzutage bist du der Lehrer des 17. Karmapa. Ist eure Verbindung ähnlich?

Es hängt von Karmapa ab, denn ich habe ihm völlige Freiheit gegeben. Ich habe ihn nicht unter die traditionelle Kontrolle gestellt und so ist er frei. Und ja, es ist sehr ähnlich, es hat sich spontan in ähnlicher Weise entwickelt.

Was wünscht du dir bezüglich der Karmapa-Kontroverse oder anderer Streitigkeiten, die es zurzeit gibt? Wie könnten diese beigelegt werden?

Ich habe nie damit aufgehört, den Karmapa Charitable Trust zu schützen. Er wurde der rechtliche Nachfolger des 16. Gyalwa Karmapa und hat die Verantwortung, sich um alles zu kümmern. Als alles noch in Ordnung war, stimmte ich zu, als der Shamarpa einer der Treuhänder zu werden.

Ich erkannte Thaye Dorje als den Karmapa an und nun ist er erwachsen, mit einer Ausbildung sowohl in Tibetisch als auch in Englisch. Aber ich habe ihn nie für den Trust benutzt, um irgendetwas herauszufordern. Ich habe ihn völlig herausgehalten, denn es liegt in meiner Verantwortung, ihn zu schützen und nicht sozusagen ins heiße Wasser zu werfen.

Aus dem Englischen


Shampar Rinpoche
ist der zweithöchste Lehrer der Karma-Kagyü-Linie. Seine Inkarnationslinie stand von jeher in engster Verbindung mit derjenigen der Gyalwa Karmapas, so dass er auch zu dem Beinamen "Rothut-Karmapa" kam.

Der derzeitige 14. Shamarpa wurde 1952 geboren. 1959 verließ Shamar Rinpoche aufgrund der chinesischen Invasion sein Heimatland Tibet an der Seite des 16. Karmapa. Bis 1979 erhielt er im Kloster Rumtek in Sikkim sämtliche Belehrungen und Übertragungen der Kagyü-Linie vom 16. Karmapa.

Seitdem reist er durch die ganze Welt und lehrt den Diamantweg-Buddhismus. Im März 1994 erkannte er offiziell Trinle Thaye Dorje als den 17. Gyalwa Karmapa an und leitet dessen Ausbildung.

1996 gründete er "Bodhi Path", eine Organisation von buddhistischen Zentren in Ost und West. Rinpoche ist Autor von verschiedenen Büchern. Im "The Path to Awakening" (deutsch: "Lojong - der buddhistische Weg zu Mitgefühl und Weisheit") gibt Shamar Rinpoche einen ausführlichen Kommentar zu Chekawa Yeshe Dorjes Sieben-Punkte-Geistestraining (Lodjong). Sein neuestes Buch "A Golden Swan in Turbulent Waters" wurde in Ausgabe 52 der Buddhismus Heute vorgestellt.

www.shamarpa.org


"A Golden Swan in Turbulent Waters -
The Life and Times of the Tenth Karmapa Choying Dorje"
Bird of Paradise Press, Lexington/Virginia
ISBN: 978-0988176201
288 Seiten
Ca. Euro 32,-

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:

- 52 - "A Golden Swan in Turbulent Waters"