MeditationJigme Rinpoche
Das Resultat der buddhistischen Praxis wird von verschiedenen Dharma-Lehrern in unterschiedlicher Weise beschrieben, je nach Sichtweise und was ihnen zu betonen vordringlich ist. Es hängt aber auch von ihren individuellen Dharma-Wünschen ab. Heute möchte ich darüber sprechen, was aus meiner Sicht wichtig ist, über das Ziel des Buddhismus zu wissen.
Das langfristige Resultat unserer Praxis ist ein Zustand ohne Leiden zu erreichen. Das bedeutet, dass man immer voller Freude ist, Vertrauen und Zuversicht in sich selbst haben kann. Man wird immer weniger Probleme haben und all die gewöhnlichen Gedanken werden abnehmen. Es ist zwar nicht möglich, alle Ablenkungen im Geist auf einmal aufzugeben, aber Ängste, Schwierigkeiten, Zorn usw. nehmen ab und unser Geist wird friedvoller, froher und stärker. Wenn der Geist klar wird, entwickelt er sehr viel Kraft, wenn er nicht klar ist, bleibt er immer schwach. Wir sind zwar in diesem Leben als Menschen geboren, das Leben ist aber vergänglich und es folgen unzählige weitere Leben. Es gibt viele Möglichkeiten, dieses Leben in einer guten und anständigen Weise zu führen. Wir können im nächsten Leben aber möglicherweise nicht in der gleicher Weise weitermachen. Man kann sich mit dem Buddhismus auf sehr vielseitige Art und Weise beschäftigen, es gibt viele interessante Themen, über die man etwas lernen kann, je nachdem, wofür man sich interessiert. Man sollte sich aber erst einmal auf ein paar wesentliche Meditationen stützen und diese täglich praktizieren. Anderes kann später hinzukommen, wenn man mag. Es gibt sehr viel Spannendes zu lernen, das kann aber auch ausufern und sogar zu Verwirrung führen. Ich würde empfehlen, euch erst einmal nur auf ein paar essentielle Übungen zu konzentrieren. Durch wenige grundlegende Übungen bekommt ihr alles, was wichtig ist, und später könnt ihr sehen, was darüber hinaus für euch noch von Interesse ist. Bei jemandem, der daran arbeitet, seinen Lebensstandard zu verbessern, ist das ähnlich: Erst verdient man mehr Geld, dann hält man daran fest und man will noch mehr, und so geht das immer weiter. Wenn man auf der anderen Seite aber gerade so viel hat, wie man braucht, ist es auch möglich, dass man ganz entspannt damit ist und überlegen kann, ob es genug ist oder ob man noch etwas mehr will. So ähnlich kann man das auch mit den verschiedenen buddhistischen Übungen sehen. Zunächst ist wichtig, dass man durch eine wesentliche Praxis fähig wird, mit seinem Geist in diesem Leben gut umzugehen. Damit auch die zukünftigen Leben gut verlaufen, bis hin zur Erleuchtung, wendet man noch einige zusätzliche Meditationen an. Bei diesen wesentlichen Übungen bleibt man und kann sich, wenn man sich dafür interessiert, zum Beispiel noch mit Philosophie, Literatur, Dharma-Geschichte usw. beschäftigen. Wir können unter den verschiedenen wesentlichen Übungen wählen, auf die wir uns konzentrieren, und manchmal ist es auch gut zu wissen, wie man sie alle kombiniert. Der tibetische Buddhismus, der Diamantweg, wirkt ja oft kompliziert, weil er so viele Möglichkeiten der Meditation anbietet. Es gibt so viele Ermächtigungen, so viele Methoden, so viele Bedingungen und Meditationen. Einerseits sind sie alle sehr wichtig, andererseits ist es schwierig, überhaupt nur EINE davon zu verwirklichen. So gibt es zum Beispiel Einweihungs-Serien mit vielen Buddha-Aspekten und zu jedem davon Erklärungen, wie man auf sie meditiert, welche Bedingungen man für die Praxis braucht, wie man das Retreat dazu macht usw. Für einige Menschen mag es auch sehr wichtig sein, dass sie das alles lernen, bewahren und fähig werden, es später an andere weiterzugeben. Die Einweihungen zu bekommen, ist auf jeden Fall für jeden gut, denn sie hinterlassen einen tiefen Eindruck im Geist, der in der Zukunft reif werden wird. Das ist wichtig für uns. Wenn wir aber in diesem Augenblick unseren derzeitigen Geisteszustand anschauen, dann brauchen wir nur eine einzige Praxis, um das Resultat der Erleuchtung zu bekommen. Diese muss auch gar nicht kompliziert sein. Für alle Yidams – wie zum Beispiel "Liebevolle Augen" – gibt es immer sowohl eine einfache Meditation und zusätzlich auch eine detailliertere Fassung, um mehr in die Tiefe zu gehen. Welche Version wir praktizieren können, hängt von unseren Gewohnheiten und Fähigkeiten ab, aber das Resultat wird immer das gleiche sein. In jeder der verschiedenen Versionen gibt es Erklärungen darüber, wie man die Vergegenwärtigung übt, wie die Symbolik zu verstehen ist, zu den Rezitationen, wie zum Beispiel der Zuflucht, und das Entwickeln des Erleuchtungsgeistes, über das Mantra, usw. Bei den Erklärungen über die Vergegenwärtigung lernt man zum Beispiel, wie man auf sich selbst in dieser Weise meditiert. Die Diamantweg-Praxis hat eine Struktur, und wenn wir in dieser Weise üben, sollten wir auch wissen, was wir eigentlich damit bezwecken. Das ist in beiden Fällen wichtig, ob wir nun eine einfache oder eine sehr ausführliche Version der Meditation üben. Worum geht es also, was wollen wir mit der Praxis erreichen? Ich denke – und das sehen auch wichtige Lamas, die viel praktiziert haben so, dass es darum geht: Durch die regelmäßige Praxis, also nicht sofort, wandelt sich unsere gewohnte Sichtweise, die wir von uns selbst haben, unsere Denkweise und unsere Lebensweise in die von "Liebevolle Augen" um. Es bedeutet nicht, dass wir unser Leben oder unseren Lebensstil plötzlich ändern sollten. Es findet ein allmählicher Wandel unseres Denkens, Fühlens und des Umgangs mit den Dingen in der Welt statt. Es verändern sich dadurch all unsere begrifflichen Vorstellungen. Bevor wir etwas über Buddhismus hörten, dachten wir über manche Themen ganz anders als heute. Wir sind uns vielleicht nicht so bewusst darüber, was gut und was schlecht ist, und es interessiert uns auch nicht besonders. Wenn wir uns schließlich mit dem Buddhismus beschäftigen, ändert sich unser Geist. Diese Veränderung im Geist ist keine Einbildung, sie geschieht ganz natürlich schon dann, wenn der Geist sich im Rahmen der bedingten Welt zu konzentrieren lernt. Er wird weniger Stress und weniger negative Einstellungen gegenüber anderen Wesen empfinden. Jedes Wesen wird wichtig und es entsteht der Wunsch, dass man etwas für andere tun will. Diese natürliche Veränderung vertieft sich im Geist und dadurch wird er sich immer weniger von Gedanken und Gefühlen ablenken lassen. Mit der Zeit verändern wir all die Tendenzen der bedingten Welt, mit denen wir in diesem und früheren Leben zu leben gewohnt waren. Diese grundlegenden Neigungen sind nicht unbedingt alle schlecht, aber der Geist wird freier, wenn wir sie ändern. Wir sehen diese alten Gewohnheiten zum Beispiel, wenn wir einfach nur ruhig dasitzen wollen: Unser Geist wandert dann mit den Gedanken immer in die Vergangenheit oder Zukunft, und all die Gedankenmuster, die im Geist aufkommen, sind gefärbt davon, in welchem Teil der Welt wir leben, in welcher Kultur und Gesellschaft. Wenn wir mit der Praxis beginnen, leben wir als ganz normale Menschen mit unserem uns eigenen Lebensstil weiter, aber unsere grundlegenden geistigen Tendenzen verwandeln sich in die eines Bodhisattvas. Wir werden mehr und mehr vertraut damit und lernen, dies zu halten. In diese Richtung zielt unsere Diamantweg-Praxis und man kann sie unter zwei Aspekten sehen. Einer hat mit der indischen oder tibetischen Vergangenheit zu tun, mit der damaligen Kultur und den Verbindungen zu den Religionen der damaligen Zeit. Diesen Aspekt verwenden wir manchmal im Vajrayana, denn er hat eine bestimmte Funktion: Er verleiht der Praxis eine gewisse "esoterische Kraft", und ist nützlich. Ihr seid hier im Westen geboren und man kommt hier nicht ohne weiteres mit den buddhistischen Lehren in Verbindung. Trotzdem fühlen sich diese Lehren für euch vertraut an und interessieren euch, was nicht selbstverständlich ist. Es gibt auch Menschen, die aus bestimmten Gründen das Dharma gut finden, aber sie fühlen nicht unbedingt diese Vertrautheit. Diese zu spüren, ist ein Gewinn unserer früheren Praxis. Sie gibt uns die Sicherheit, die es uns ermöglicht, Leben für Leben immer weiterzugehen in Richtung voller Erleuchtung. Um das zu erreichen, verwenden wir eine Methode. Alle Methoden sind grundsätzlich gleich gut, aber zu manchen bekommen wir schneller eine Verbindung und bei anderen dauert es länger. Das ist sehr individuell und hängt von vielen Umständen ab. Man kann es nicht wirklich erklären, wie es bei verschiedenen Menschen funktioniert. Wenn wir beginnen, auf einen Buddha-Aspekt zu meditieren, oder die Meditation auf den Lama zu üben, kommen in der Praxis viele verschiedene Elemente zusammen und unser Geist richtet sich mehr und mehr auf das aus, womit wir in Verbindung treten wollen. Es spielt keine Rolle, ob wir auf "Liebevolle Augen" meditieren oder die Guru-Yoga-Praxis auf die physische Form des Lamas üben, was viele Menschen sehr mögen. Die Bedeutung ist immer die gleiche, nur die Methoden sind unterschiedlich. Jeder von uns hat individuell grundlegende alte Tendenzen im Geist. Es geht dabei nicht nur um die des menschlichen Lebens, sondern um die allgemeine Wahrnehmung eines Wesens in Samsara. Unser Geist ist voll dieser alten und neuen Gewohnheitsmuster und wir wurden seit anfangsloser Zeit immer wieder mit ihnen geboren. Sie prägen vom Moment unserer Geburt und über die Zeit unseres Aufwachsens unsere begrifflichen Vorstellungen. In der Dharma-Terminologie nennen wir sie die "Verdunkelung unserer ursprünglichen Buddha-Natur". "Verdunkelung" können wir als etwas Schlechtes oder Gutes auslegen, es bedeutet aber auf jeden Fall, dass wir völlig in einer Vorstellung verwickelt sind. Egal ob ein Mensch aus dem Osten oder aus dem Westen kommt, beide sind menschliche Wesen, aber ihre Denkweisen sind ganz verschieden. Westler sind von ihrem westlichen und Ostler von ihrem östlichen Lebensstil "verdunkelt". Ihre Vorstellungen, ihr Verständnis und ihre Gefühle sind nicht völlig gleich. Aber ALLE Menschen sind in ähnlicher Weise durch die Bedingungen in Samsara verdunkelt. Was bedeutet es, diese Tendenzen umzuwandeln, was bringt uns das? Es heißt nicht, dass wir uns völlig verändern müssen, aber wir sollten lernen, einige Dinge zu verstehen und Überzeugung darin erlangen. Dann können wir sogar unter schwierigen Lebensumständen das anwenden, was wir verstanden haben, denn der Geist hat sich von diesen Bedingungen etwas freigemacht. Unsere Sichtweise wird mehr und mehr durch den Erleuchtungsgeist getragen. Dadurch, dass wir uns durch die Diamantweg-Praxis mit dem Lama oder einem Yidam verbinden, ändern wir uns natürlicherweise, ohne dass es einen Kraftaufwand erfordert. Der Weg zur Buddhaschaft wird oft anhand der "Bodhisattva-Stufen" beschrieben. Wenn man noch nicht so viel darüber gelernt hat, könnte man meinen, es seien bestimmte Kategorien, aber eigentlich geht es bei diesen Stufen nur um die Fähigkeit zur Klarheit des Geistes. Diese entwickelt sich von der ersten Bodhisattva-Stufe hin bis zur zehnten. Es gibt dazu ausführliche tibetische Texte, in denen viele Details über diese Stufen erklärt werden – zu den Lebensbedingungen, darüber, wie man seinen Geist weiterentwickelt, wie man praktiziert und was man schließlich als Ergebnis erlangen kann. Diese Resultate werden als die jeweilige Vollendung einer der zehn Stufen der Bodhisattvas beschrieben. Diese Stufen zu erlangen bedeutet nicht, dass man Prüfungen machen muss oder dass jemand einem diesen Titel verleiht, sondern man hat auf jeder Stufe ein bestimmtes Verständnis des Geistes im gegenwärtigen Augenblick. Das klingt ziemlich einfach und unkompliziert, tatsächlich ist es aber sehr schwierig, die sehr tief in uns verwurzelten Gewohnheiten zu ändern. Das geht nicht von heute auf morgen. Wir kennen Ähnliches auch im Zusammenhang mit unserem kulturellen Hintergrund: Wenn wir im Westen geboren wurden und aufgewachsen sind, sind wir sehr tief in der westlichen Kultur verwurzelt. Es ist zwar möglich, seinen ganzen Lebensstil zu ändern, aber unser tiefes Unterbewusstsein zu verändern ist sehr schwer. Unseren Kleidungsstil oder unsere Lebensweise usw. zu wechseln ist vergleichsweise einfach. Die Bedingungen von Samsara sind ganz tief in uns verwurzelt und hängen mit den Störgefühlen wie Anhaftung, Eifersucht, Stolz usw. zusammen. Diese tief in uns sitzenden Gewohnheitstendenzen können wir durch die Praxis zwar ändern, aber es wird nicht gleich sichtbar sein. Wir können über viele interessante Themen Belehrungen bekommen, aber man kann das alles nicht sofort umsetzen. Man mag das zwar vorgeben, aber tief drinnen bleibt man doch erst einmal derselbe, der man immer war. Wenn man anfängt zu praktizieren und selbst wenn einen die Praxis noch nicht so sehr geprägt hat, erlebt man aber doch schon eine Veränderung allein durch das tiefe Verständnis der Praxis. Das eigene Erleben und Fühlen ändert sich sehr tiefgehend, um das aber erkennen zu können, muss man es im jeweiligen Augenblick wahrnehmen können. Normalerweise sehen wir nicht wirklich, was tief in unserem Geist mit unseren Emotionen vorgeht. Wenn ich mich zum Beispiel gerade nicht so wohl fühle, nicht richtig froh bin und ein kleines Problem habe, dann sehe ich normalerweise nicht die Ursache des Problems. Wir sagen zwar, dass wir mit diesem oder jenem Thema ein Problem haben, aber tatsächlich sehen wir nicht wirklich, was los ist. Wir haben Belehrungen darüber gehört, dass unser Geist nicht von den Störgefühlen eingefangen werden sollte. Wenn er sich von ihnen befreit hat, leiden wir weniger und haben mehr geistige Kraft, weniger Ängste und Sorgen. Wir hören diese Erklärung, denken darüber nach und arbeiten ein bisschen damit – aber trotzdem können wir unseren Geist nicht selbst einfach so verändern. Manche Dinge sind nicht leicht zu verstehen und deshalb auch nicht einfach zu ändern, bis man seine eigene Erfahrung damit gemacht hat. Man muss die Erfahrung haben und kann sie in Beziehung setzen zu dem, was man über die Bodhisattva-Stufen gelernt hat. Es heißt zum Beispiel, dass man auf der ersten Bodhisattva-Stufe immer noch Probleme mit den Störgefühlen hat, aber nicht so wie gewöhnliche Menschen sie haben. Auf einer höheren Stufe hat man zwar noch subtile Störgefühle, aber sie stören einen nicht mehr. Man wird von ihnen nicht mehr gefangen, der Geist ist sehr stabil. Auf einer noch höheren Ebene erscheinen zwar immer noch Störgefühle im Geist, aber man erkennt sie sofort im Entstehen und wird gar nicht mehr von ihnen gefangen. Ist man noch weiter auf den Stufen, tauchen sie nur noch als bloße Erscheinungen im Geist auf und bleiben nicht; man reagiert gar nicht mehr auf sie. Das Resultat unserer Praxis wird also die Befreiung von Störgefühlen und begrifflichen Vorstellungen sein. Es gibt zwar immer noch die Bedingungen von Samsara, aber man ist vollkommen frei und leidet nicht mehr. Um das zu erreichen, meditieren wir und das ist es, was andere schon vor uns erreicht haben. Je nach individuellen Vorlieben gibt es nicht nur eine Möglichkeit, sondern viele verschiedene Methoden der Praxis. Manche Arten der Praxis bringen schnelle Ergebnisse, heißt es, andere erfordern mehr Zeit; es hängt von vielen Umständen ab. Obwohl es verschiedene Zugänge gibt, ist das, was essenziell wichtig und als Resultat zu erreichen ist, immer das gleiche. Es gibt im Diamantweg sehr viele Möglichkeiten zu praktizieren, aber alle bringen das gleiche Ergebnis. Man kann das Ziel über die Autobahn, per Bundesstraße oder über kleine Straßen erreichen. Der Begriff "Übung" ist oft mit der Vorstellung verbunden, dass man viel Mühe aufbringen, viel Zeit dafür verwenden und unablässig üben muss. Hier gibt es aber zwei Punkte zu beachten: Einerseits gibt es die formale Praxis, also eine Meditation auf einen Buddha-Aspekt oder einen Lama, bei dem man sich zum Beispiel mit dem Karmapa verbindet, andererseits gibt es auch die Nach-Meditation, eine andere Art von "Übung". Hierzu gibt ein Beispiel aus Rumtek: Vor vielen Jahren lebte dort einmal eine alte Dame. Als sie sehr krank wurde und im Sterben lag, kamen die Leute zu ihr und fragten, ob sie Hilfe bräuchte. Sie antwortete: "Nein, ich habe genug zu essen und alles ist in Ordnung. Ich brauche keine Hilfe, denn ich bin von meinem Lama, dem Karmapa, ungetrennt." Die Leute verstanden das nicht und dachten, sie sei zu stolz, um den Beistand von Lamas oder Erklärungen zum Sterben zu erbitten. Gerade im Moment des Todes ist Unterstützung normalerweise sehr wichtig. "Untrennbar vom Lama zu sein" ist ein Begriff, eine Vorstellung – aber für die Dame war sie zu Wirklichkeit geworden. Wenn wir beständig weiter praktizieren, werden wir fühlen, dass wir uns langsam verändern und dass auch für uns diese Vorstellung Wirklichkeit wird. Durch die Meditation untrennbar vom Lama zu werden ist nicht so ohne Weiteres in einem Moment umzusetzen. Es muss sich allmählich durch lebenslange Praxis entwickeln. Unsere Praxis ist also einerseits Meditation, sie durchdringt aber auch unser tägliches Leben, unsere normalen Alltagsbedingungen, die Zeit nach der Meditation. Sie ist in all unseren individuellen Lebenssituationen anwendbar. Hat man mit einer Handlung einen negativen Eindruck in den Geist gesetzt, ist es wichtig, die Tat zu bereuen, es also einzusehen und zu wünschen, diesen Eindruck zu entfernen. Dieser Eindruck ist eine tief unterbewusste Tendenz. Wenn man nicht aufhört, bestimmte Dinge zu tun, wird der Eindruck immer tiefer, man bemerkt es aber gar nicht mehr. Wenn man dann jedoch versteht, dass man etwas Ungutes getan hat und versteht, was das bedeutet, ist der Eindruck im Geist schon abgeschwächt. Treten diese Umstände wieder auf, gehen wir schon vorsichtiger damit um und lassen uns nicht mehr so sehr darin verwickeln. Wir bereuen also einerseits die negative Handlung, freuen uns aber auch über eine positive Handlung. Wir üben unsere Praxis also ständig im Alltag und sie wird für uns immer klarer. Wir entwickeln eine Gewohnheit, die immer natürlicher wird und schließlich können wir ständig darin verweilen. Wenn wir im Alltag die Gewohnheit entwickeln, mit den Lehren Buddhas in Verbindung zu sein, wird das ganze Leben zu einer beständigen Praxis. Um diesen Prozess zu unterstützen und verstärken, benutzen wir auch eine formale Meditation, die uns eine starke Verbindung gibt, damit wir den Segen der Meditation auf den Lama oder den Yidam bekommen. Dieser unterstützt und hilft uns, damit alles, was wir uns täglich wünschen, leichter in Erfüllung geht. Wir bleiben täglich mit den Belehrungen in Verbindung und lassen durch die Praxis unsere Verbindung reifen. Damit können wir etwas sehr Tiefgründiges und Wichtiges für uns erreichen. Es ist zwar nicht schwer, aber es erfordert unser Bemühen und wir sollten üben. Wir können im Alltag viel Zeit für informelle Praxis verwenden, und wenn dann die formale Praxis hinzukommt, können wir etwas erreichen, was auf Tibetisch "Lhaktong" genannt wird. Das bedeutet, dass man mehr sehen kann als normalerweise, denn die Meditation verleiht unserem Geist eine nicht sichtbare, besondere Fähigkeit. Wenn wir im Allgemeinen über normale Dinge sprechen, verstehen wir sie und können das danach umsetzen. In der Erfahrung unserer Praxis gibt es aber manches, zum Beispiel bestimmte Methoden, mit denen man Erleuchtung erlangen kann, was man nicht sofort verwenden kann, auch wenn man darüber geredet hat. Wenn man die Methoden sofort anzuwenden versucht, bekommt man nicht das Resultat. Zu diesem Thema gibt es einen einfachen Text von Nagarjuna. Darin erklärt er einem Schüler, was Meditation ist. Es ist hier im weitesten Sinne gemeint, also "Meditation" als Konzentration, als Fokussieren auf eine Vergegenwärtigung, als Rezitation eines Mantras usw.; Meditation in dem Sinne, dass wir den Geist nicht umherwandern lassen, sondern ihn auf ein Objekt konzentrieren. Nagarjuna erklärt, dass schon die ganz einfache meditative Konzentration allein als Ergebnis bringt, dass man auch auf der relativen Ebene viel mehr als gewöhnlich erkennen kann. Es gibt zum Beispiel Menschen, die zwar nicht erleuchtet sind, aber besondere geistige Fähigkeiten haben. Woher kommt das, warum sind sie so und unsereins nicht? Mit Nagarjunas Erklärungen wird es deutlich, er sagt: Die Konzentration allein gibt schon eine subtile Klarheit und diese kann uns geniale Fähigkeiten geben. Es hängt natürlich von vielen Umständen ab, zum Beispiel wo und unter welchen Umständen man lebt usw. Wenn man dann als Mensch wiedergeboren wird, kann es sein, dass man dadurch ein hochintelligentes Genie wird. Nagarjuna geht mit seinen Erklärungen aber weiter: Wenn man die gleiche Meditation anwendet und zusätzlich andere Aspekte mit hinzunimmt, dann entwickelt man auch über die absolute Wahrheit Klarheit. Diese Aspekte sind zum Beispiel, dass man negatives Karma reinigt, Verdienst ansammelt, Segen bekommt und den Erleuchtungsgeist entwickelt. Das ist der Weg, den die Buddhas und Bodhisattvas gegangen sind. Jeder kann also lernen, sich in der Meditation zu konzentrieren. Aber es ist eine ganz andere Sache, wenn man das mit noch ein paar anderen Aspekten kombiniert und so bestimmte Bedingungen zusammenbringt. In dieser Weise zu meditieren, bringt also ein viel größeres Ergebnis, als wenn man sich einfach nur konzentriert. Ich habe viel darüber nachgedacht, denn manchmal passt das, was man in Büchern liest, nicht so einfach zusammen mit dem, was man sich selbst über das Leben denkt. Diese Belehrung erklärt, wie es kommt, dass manche Menschen als Genies geboren werden. Aber obwohl sie Genies sind, sind sie doch immer noch normale Menschen und keine Erleuchteten. Um den Weg der Bodhisattvas zu gehen und ein Buddha zu werden, müssen eben noch all die Reinigungen und der Aufbau von Verdienst und Segen dazukommen. Das muss man mit der Meditation kombinieren. Das ermöglicht uns, die Resultate eines Bodhisattvas zu erlangen. Die Grundübungen bereiten uns darauf vor, dass wir uns mit einem Yidam oder dem Wurzellama verbinden können. Mit den Verbeugungen nehmen wir erst Zuflucht und entwickeln den Erleuchtungsgeist, dann reinigen wir uns mit der Diamantgeist-Praxis, und mit den Mandala-Schenkungen bauen wir viel Verdienst auf. Erst dann ist man in der Lage, wirklich den Segen zu empfangen und untrennbar darin zu verweilen. In Tibetisch haben wir dafür einen Ausdruck, der in etwa heißt: "So wie Wasser in Wasser fließt". Wenn man sich vorbereitet hat, führt der Segen des Lamas dazu, dass der eigene Geist so wird wie der Geist des Lamas – ein großer Sprung aus dem gewöhnlichen, samsarischen Zustand des Geistes. Danach kann man verschiedene Übungen des Mahamudra miteinander verbinden und tiefgründiger praktizieren. Dadurch kann man schließlich im Mahamudra-Zustand zu verweilen. Es gibt viele Arten der Meditation, aber es ist diese Kombination, von der Nagarjuna in dem Text sprach, die uns präzise auf Erleuchtung ausrichtet. Wenn man einfach "nur so" meditiert, ohne die anderen Aspekte hinzuzunehmen, lässt das in uns zwar viel Positives entstehen, aber es führt nicht wirklich in Richtung Erleuchtung. In Tibet und insbesondere in der Karma- Kagyü-Tradition wurden deswegen immer so sehr die Linie und der Segen der Übertragung betont. Es wurde viel über die Verbindung mit den früheren Lamas gesprochen, über ihre besonderen Taten usw., aber es geht dabei nicht nur um eine bestimmte Tradition. Es ist eine sehr effektive Methode, diese Qualität in der Praxis anzuwenden. Wir bereiten uns darauf vor, dass diese Qualität zu uns passt und wir dann stetig die Resultate erfahren werden. Es geht bei dem Begriff "Großes Siegel" nicht nur um einen bestimmten Stil von Meditation, sondern darum, dass man Tag für Tag in einer guten Weise lebt. Durch die Meditation bauen wir die Gewohnheit auf, unser Leben in einer sinnvollen Weise zu leben, und wenn wir damit vertraut sind, bekommen wir Sicherheit und können in diesem Zustand verweilen. Man lebt zwar sein normales Leben, aber zu einer bestimmten Zeit hat man dann auch unterscheidende Weisheit entwickelt. Die erwähnte Dame in Rumtek ist ein Beispiel für eine solche Person. Sie lebte ein ganz normales Leben, mit Kindern, Enkeln usw. Sie war eine ganz gewöhnliche Frau aus dem Dorf, aber als es dann im Leben schwierig wurde, war sie fähig, einen ganz besonderen Geisteszustand aufrecht zu halten; einen Zustand von Sicherheit, den man normalerweise im Alltag nicht kennt. Diese Dame habe ich nur als Beispiel erwähnt, aber es gab viele wie sie. Es ist eine Besonderheit unter den Schülern Karmapas, wie wir auch in der Geschichte sehen: Zur Zeit des siebten und achten Karmapas führten all die Schüler um Karmapa herum ein "gewöhnliches" Leben, innerlich waren sie aber hochrealisierte Menschen. Es gibt viele Ausdrücke für Leute wie sie und ihre Fähigkeiten. Manchmal sprechen wir von "Siddhas" oder von "Praktizierenden", oder wir verwenden das tibetische Wort "Naljorpa" (skt. Yogi) für solche besonderen Menschen. Das Besondere an ihnen war, dass sie äußerlich nicht auffällig waren, sie taten ganz normale Sachen im Leben, sie kümmerten sich zum Beispiel um die Pferde oder arbeiteten in der Küche. Der siebte und der achte Karmapa reisten sehr viel in Tibet umher. Sie hatten eine große Gruppe ihrer Schüler um sich, und wenn sie für eine Zeit ein Camp aufbauten, unterrichtete Karmapa die Menschen aus der Gegend. Karmapas Schüler verrichteten die Arbeiten im Camp: sie kochten, kümmerten sich um die Pferde und die Zelte und erledigten alle möglichen Dienste. Natürlich waren auch wichtige große Lamas seine Schüler. Der Punkt ist aber: Die normalen Leute hatten die gleichen geistigen Fähigkeiten. Auch wir können in ähnlicher Weise unseren normalen Lebensstil fortführen. Auf der inneren Ebene, im Geist, arbeiten wir aber daran, etwas zu lernen, wir bemühen uns, die Dharma-Lehren wirklich zu leben usw. Wir sind nicht wie ein Schauspieler, der im Theater eine Rolle spielt und anschließend draußen ganz anders ist, sondern wir leben voll und ganz jederzeit den Dharma-Weg. Um dazu fähig zu werden, müssen wir aber praktizieren. Dadurch werden wir nach und nach, ernsthaft, natürlicherweise und sehr bewusst immer mehr zu einem Bodhisattva mit dem entsprechenden Lebensstil. Zur gleichen Zeit leben wir einfach unseren gewohnten Lebensstil weiter und machen unsere Arbeit, die Aktivitäten die wir gerne tun. In der gleichen Weise haben es die nahen Schüler um die früheren Karmapas getan, und wenn wir die alten Biographien lesen und hören, was andere Lamas darüber erzählen, dann sehen wir, was für ein großes Potenzial und welch große Möglichkeiten für uns darin liegen. Jigme Rinpoche |
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