Aus: Buddhismus Heute Nr. 53, (Herbst 2013)

"Das eigentliche Hindernis sind die eigenen Gewohnheiten"

17. Gyalwa Karmapa Trinle Thaye Dorje

aus der amerikanisch-buddhistischen Zeitschrift "Tricycle"

Im Diamantweg-Buddhismus benötigt man für die meisten Übungen, die mit der Vergegenwärtigung von Buddha-Aspekten arbeiten, zuvor eine rituelle Ermächtigung. Die spirituellen Lehrer geben sie den Praktizierenden mit dem Ziel, sie auf mehreren Ebenen mit der Weisheitsenergie des Lehrers und den Meditationsbuddhas in Verbindung zu bringen. Eine solche Ermächtigung dient dazu, Verständnis und Geistesruhe zu erlangen. Dazu gehört auch, dass man Zuflucht nimmt, den Erleuchtungsgeist erzeugt und die Reine Sicht entwickelt, denn sie ist möglich! Reinigung ist möglich.

Zuerst einmal müssen wir aber mit dem anfangen zu arbeiten, was wir schon haben, und das ist zu diesem Zeitpunkt gerade unsere Identifikation mit "Ich" und "Du" und "Wir". Sie ist weder gut noch schlecht und auch nichts Festes, sie ist einfach da und erlebbar, weil sich alles gegenseitig bedingt. Sie ist nicht mehr als das.
Wir müssen nicht sagen "Es gibt kein Ich", denn in gewisser Weise gibt es das Ich ja. Wenn ich euch kneife, spürt ihr das ja auch. Also können wir diese Identifikation nicht bestreiten. Aber wir sagen auch nicht "Ah, ich fühle den Schmerz, also werde ich aufgeben". Wir können mit unserer Identifikation arbeiten und sie zu unserem Vorteil verwenden. Darum geht es tatsächlich beim Zuflucht nehmen und den Erleuchtungsgeist entwickeln: Wie können wir das nutzen?

Um Verdienst und Weisheit aufzubauen, nehmen wir zum erleuchteten Zustand des Geistes Zuflucht: zu Buddha; zum Weg selbst, dem Dharma; zu den Wegweisern, den Bodhisattvas. Auf dieser Grundlage können wir Verdienst und Weisheit aufbauen und zur gleichen Zeit Verständnis entwickeln.

Dabei ist unsere Motivation sehr wichtig, nämlich die Haltung, anderen wirklich nutzen zu wollen. Es geht dabei nicht darum, wie vielen Wesen man nutzen kann, sondern einfach um die Idee, dass man anderen nutzen will. Es geht auch nicht darum, ob wir tatsächlich helfen können oder nicht – damit müssen wir uns nicht belasten. Es geht hier nur darum, die gute Motivation zu haben, das ist alles.
Wenn wir uns sehr versteifen und sagen "Ich will helfen, ich muss helfen", regen wir uns auf und sind frustriert, wenn wir nicht helfen können. Deswegen entwickeln wir hier einfach nur diese kostbare Geisteshaltung, diese Einstellung, dass wir immer bereit sind, anderen zu helfen. Mit dieser Haltung haben wir Frieden.

Zurzeit haben wir also diese Erfahrung einer Identität, eines "Ichs", aber wir geben uns mit diesem gewöhnlichen Zustand nicht einfach zufrieden. Durch die mit der Ermächtigung und der Praxis gewonnenen Reinen Sicht ist unser Geisteszustand echtes Mitgefühl und wir sind eine Verkörperung von sowohl Mitgefühl als auch Weisheit. Wir haben zu jeder Zeit die Haltung, nützlich sein zu wollen und die Mittel dazu, nämlich die Weisheit, jede Situation nützlich zu machen.
Das bedeutet: Wenn es anderen Nutzen bringt, dass ich ein Arzt, ein Koch oder ein Maler bin, dann werde ich eben ein Arzt, Koch oder Maler sein. Wenn wir diese Haltung haben, fühlen wir uns weder höher- noch minderwertig damit, ein Koch zu sein oder kein Koch zu sein. Wir fühlen uns auch nicht überlegen, weil wir uns als Weisheitsaspekte sehen, oder weniger wert, weil wir uns als Menschen betrachten. Das einzige, was wirklich zählt und uns Frieden schenkt, ist, uns völlig wohl mit der Idee zu fühlen, anderen helfen zu wollen. Wir müssen nicht viel verändern.

All diese Qualitäten sind natürlich, wir müssen sie nicht irgendwo kaufen oder erwerben. Sie waren schon seit unserer Geburt da und es ist eine große Freude, wenn wir erkennen, dass wir das alles schon haben

Auch wenn uns das alles klar ist, klingt der Name dieser Einweihung heute – Vajrapani, Hayagriwa und der "Phoenix" Garuda – sehr ungewöhnlich, fantastisch und exotisch, nach etwas weit Entferntem. Damit es etwas verständlicher wird, machen wir uns klar, dass es darum geht, Hindernisse zu entfernen. Wir können vielleicht sogar Hinweise darauf bekommen, wenn wir mit Google oder in Wikipedia danach suchen

Was hat es mit diesen Hindernissen auf sich? Leben sie irgendwo da draußen als Geister oder Kräfte oder – wie die erwähnte Google-Suche ergeben kann – in der Form von Nagas oder Dämonen, Maras? Man kann es ganz einfach halten und sehen:
All diese äußeren Projektionen entspringen tatsächlich aus unserem eigenen Geist. Solche Kräfte oder Geister erscheinen, wenn die Bedingungen im Geist dafür geschaffen wurden. Man kann gegen sein Spiegelbild oder gegen ein Echo ankämpfen – und ihr habt dabei in eurem Geist sogar die Bedingungen dafür geschaffen, dass das Spiegelbild antwortet und mehr als ein Spiegelbild zu sein scheint. Man vergisst dann, wie einfach alles eigentlich ist: Wir haben es nur mit einem Spiegelbild oder einem Echo zu tun. Der echte Mara, das eigentliche Hindernis, sind tatsächlich die eigenen Gewohnheiten, der eigene Geist.
Es gibt keinen wirklich existierenden Mara. Wenn man aber in dieser Gewohnheit lebt, wird er auftauchen. Und er wird einen belästigen. Deswegen trainieren wir den Geist darin zu erkennen, dass all diese Hindernisse daher kommen, dass der Geist zu viel mit sich selbst gemacht hat, sich die Bedingungen selbst geschaffen hat.1

Trotz allem fühlen wir aber immer noch den Schmerz, wenn wir gekniffen werden. Also versuchen wir Mitgefühl mit unserer Gewohnheit zu empfinden und wir können sie in gewisser Weise befriedigen:
Sie will uns glauben machen, dass es äußere Erscheinungen ja doch gibt, äußere Hindernisse und all das. Wir sagen dann "gut" und finden ein geeignetes Gegenmittel, indem wir Vajrapani, Hayagriwa und Garuda manifestieren. Daraufhin entwickeln wir eine weitere Gewohnheit, nämlich, dass die Hindernisse durch diese Manifestation verschwinden. Dann fühlt sich die Gewohnheit befriedigt, sie nörgelt nicht mehr und dann sind wir froh und im Frieden mit uns.

Wenn das aber zu kompliziert ist und das Hören all dieser Dinge einem Kopfschmerz bereitet, konzentriert euch einfach darauf, zum Buddha Zuflucht zu nehmen, in Dharma und Sangha, und darauf, den Erleuchtungsgeist zu entwickeln. Ich bitte euch, während der Ermächtigung entweder das im Geiste zu halten, was ich gerade erklärt habe, oder lasst den Geist einfach in einem ruhigen und friedlichen Zustand ruhen. Entwickelt einfach die Motivation, anderen nutzen zu wollen.

Aus dem Englischen

Diese Belehrung gab Karmapa im Sommer 2012 als Einführung zu einer Einweihung in "Vajrapani, Hayagriwa und Garuda" in Karma Migyur Ling in Montchardon in Frankreich.
Sie wurde in der Winter-2012-Ausgabe der amerikanischen Dharma-Zeitschrift "Tricycle", www.tricycle.com veröffentlicht.

Wir danken Tricycle für die freundliche Genehmigung für den Abdruck der Übersetzung.

1: Karmapa verwendet hier im Englischen ein nicht übersetzbares Wortspiel: "...too much minding. Minding the mind."


17. Karmapa TRINLE THAYE DORJE
Karmapa verkörpert die Tatkraft aller Buddhas und ist das Oberhaupt der Karma-Kagyü-Linie des Diamantweg-Buddhismus. Der Karmapa gilt als der erste bewusst wiedergeborene Lama Tibets – so war ein Schüler des 4. Karmapa der Lehrer des 1. Dalai Lama. Bis heute gab es 17 Inkarnationen dieses "Königs der Yogis von Tibet". Der 16. Karmapa floh 1959 aufgrund der chinesischen Besetzung aus Tibet und sicherte von Sikkim/Indien aus das Weiterbestehen des Diamantweg-Buddhismus. 1981 starb er in der Nähe von Chicago.
Der jetzige 17. Karmapa Trinle Thaye Dorje (geb. 1983) wurde von Shamar Rinpoche als authentische Inkarnation anerkannt. Shamar Rinpoche ist der zweithöchste Lehrer der Karma-Kagyü-Linie und für die Wiederauffindung Karmapas verantwortlich. Im Frühjahr 1994 konnte Karmapa im Alter von elf Jahren das chinesisch besetzte Tibet verlassen und in die Freiheit nach Indien gebracht werden.
Seitdem lebt der Gyalwa Karmapa in Indien, wo er unter der Leitung von Shamar Rinpoche eine gründliche spirituelle Ausbildung absolviert hat. Diese deckte den gesamten Buddhismus in Theorie und Praxis ab. 2003 erhielt er den Titel eines Vidyadhara, der den formellen Abschluss seiner klösterlichen Ausbildung markiert. Daneben erhielt er auch eine moderne Ausbildung, die unter anderem die westliche Philosophie umfasst, und erlernte mehrere Fremdsprachen.
Im Jahr 2000 besuchte der 17. Karmapa Thaye Dorje das erste Mal Deutschland. Der damals knapp 17-jährige Karmapa wurde von 6000 Schülern empfangen.
Seitdem besucht er regelmäßig die westlichen Schüler und Zentren. Umgekehrt reisen Buddhisten aus aller Welt zu den traditionellen buddhistischen Ritualen, die der Karmapa in Asien leitet. Karmapa fühlt sich der westlichen Welt eng verbunden und hält durch die Nutzung ihrer modernen Kommunikationsmittel engen Kontakt zu seinen Schülern.

www.karmapa.org