Obwohl in unserer Schule die Meditation betont wird, muss sie dennoch im Gleichgewicht mit Studium sein, so dass man weiß, was man tut und auch eine Idee davon hat, wo einen die Praxis hinführt. Man braucht diesen Rahmen, um die richtigen Resultate in der Praxis zu bekommen. Besonders für Anfänger ist es wichtig, etwas zu lernen, um die korrekte Sicht zu entwickeln. Wenn man später zu der richtigen Praxis kommt, muss man wirklich verstehen, was die Meditation mit einem macht.
Warum reicht es nicht aus, einfach die richtige Sicht zu haben und sich richtig zu verhalten, warum müssen wir auch meditieren? Die Gewohnheiten in unserem Geist als gewöhnliche Wesen sind so stark, dass man sie durch nichts anderes als durch die Meditation ändern kann. Weder die höchste Sicht, noch das beste Verhalten können diese Strukturen des Geistes ändern, man braucht dafür die Meditation.
Anhaftung und Ablehnung
Um unsere Gewohnheiten nicht auch in der Meditation zu übernehmen, sollten wir uns darüber im Klaren sein, worauf wir in der Meditation aufpassen müssen. Wenn wir uns einmal anschauen wie unser Geist arbeitet, dann stellen wir fest, dass wir immer dazu neigen, etwas entweder haben oder etwas vermeiden zu wollen. Das ist zwar eine sehr einfache Weise es zu beschreiben, aber der Geist funktioniert tatsächlich so. Sobald wir etwas mögen, fühlen wir uns davon angezogen und wollen es haben. Wenn es sehr angenehm ist, wollen wir es behalten, wollen dabei bleiben oder wollen, dass es wieder geschieht. Falls es etwas ist, das wir nicht mögen, dann tun wir alles, um davon wegzukommen und es zu vermeiden.
In der Meditation geschieht eigentlich genau das Gleiche. Wir haben die gleichen geistigen Strukturen, wenn wir unsere verschiedenen Übungen machen, wir projizieren sie einfach auf die Meditation. Das ist ein Punkt auf den wir aufpassen und an dem wir etwas ändern müssen.
Wenn wir zum Beispiel die Diamantgeist-Meditation machen, kann es passieren, dass wir gut konzentriert sind, uns leicht fühlen und vielleicht ein angenehmes Gefühl erleben, das uns inspiriert. Es ist ganz normal, dass wir das dann mögen und halten wollen. Wir hätten es auch gerne wieder, wenn wir uns das nächste Mal zum Meditieren hinsetzen. Es kann aber sein, dass wir bei der nächsten Sitzung etwas völlig anderes erleben, etwas, das wir gar nicht mögen. So funktioniert unser Geist nun mal.
Während der Diamantgeist-Meditation kann es auch durchaus vorkommen, dass wir uns überhaupt nicht gut fühlen, denn die Praxis kann alle möglichen Sachen in unserem Geist hervorbringen. Es kann sein, dass wir uns niedergeschlagen fühlen, vielleicht müssen wir sogar weinen. Unter Umständen ist es ein unangenehmer Geisteszustand, den wir überhaupt nicht haben wollen. Wenn er uns zuviel wird, könnten wir sogar denken: "Vielleicht sollte ich nicht so viel meditieren" und wir denken uns alle möglichen Entschuldigungen aus, um die Meditation zu vermeiden.
Solch eine Reaktion ist zwar normal, aber wir müssen sie ändern. Es muss uns klar werden, dass jede Meditation alle möglichen Arten von Erfahrungen in uns hervorbringen kann, angenehme und unangenehme. Sie können unter Umständen sogar sehr angenehm sein, es können sagenhafte Erfahrungen in einem entstehen. Falls wir früher einmal Drogen genommen haben, könnte es ein, dass wir das Gefühl haben, nach Hause zu kommen: "Endlich passiert etwas!" Aber es geht überhaupt nicht darum, diese Erfahrungen zu bekommen. Das ist es nicht, wofür wir meditieren. Deswegen müssen wir lernen, diesen Erfahrungen gegenüber völlig neutral zu bleiben, nicht an ihnen anzuhaften und nicht zu wünschen, dass sie wieder kommen. In der gleichen Weise müssen wir lernen, unangenehme Erfahrungen einfach zu ignorieren.
Ganz gleich, was während der Praxis geschieht: Lasst es einfach geschehen und macht mit der Praxis weiter. Kommt immer wieder und wieder auf die Praxis zurück und konzentriert euch auf sie. Führt die Praxis fort und belasst Erfahrungen einfach, wie sie sind. Ich betone das hier gleich zu Beginn, denn es ist sehr wichtig und es kann leicht vergessen werden, weil die Gewohnheiten so stark sind. Wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, könnte es sein, dass wir lange Zeit praktizieren ohne diese Gewohnheit zu ändern. Genau das ist aber Zweck der Meditation und daran muss man sich immer wieder erinnern.
Shine
Alle Meditationen die Buddha gab, fallen in zwei Kategorien: Die erste davon ist die "Meditation der Geistesruhe", auf Tibetisch "Shine" und in Sanskrit "Shamatha". Die andere ist die "Meditation der Einsicht", auf Tibetisch "Lhagtong" und auf Sanskrit "Vipashyana". Die Methoden der Meditation der Geistesruhe dienen dazu, den Geist auszurichten, in dieser Ausrichtung zu bleiben und sich nicht ablenken zu lassen. Diese grundlegende Art von Meditation, Shine, findet man nicht nur im Buddhismus, sondern auch in vielen anderen spirituellen Schulen und Religionen. Im Hinduismus zum Beispiel wird die Shine-Meditation stark betont, es gibt dort viele effektive Mittel dafür.
Jeder, der in Meditation Fortschritte machen will und nicht sowieso schon kurz vor der Erleuchtung steht, muss erst einmal mit Shine anfangen. Es wurde von Buddha auf verschiedenen Ebenen in den unterschiedlichen Schulen gelehrt. In allen von Buddha gelehrten Schulen finden wir Shine – im Theravada, im Mahayana und im Tantra. Jeder kennt die grundlegende Art der Geistberuhigungs-Meditation, bei dem man sich auf den Atem konzentriert.
Es wird von vielen Menschen verwendet und ist auch für jedermann nützlich. Es gibt hier außer dem eigenen Atem keinen anderen Bezugspunkt. Man konzentriert sich nur auf den Atem und indem man den Fokus immer wieder zurückbringt, lernt man, sich nicht von anderen Dingen ablenken zu lassen.
In unserer Praxis verwenden wir Diamantweg-Methoden. Die meisten Menschen beginnen damit, wenn sie mit den Grundübungen (tib. Ngöndro) anfangen. In all diesen Übungen ist auch Shine enthalten und zwar in Verbindung mit der "Entstehungs-Phase" (tib. Kyerim), in der wir die verschiedenen Vergegenwärtigungen aufbauen, uns unterschiedliche Formen vorstellen, uns auf die verschiedenen Ornamente der Buddhas konzentrieren und Mantras rezitieren. All das ist eigentlich Shine-Meditation.
Zu Beginn übt man die Meditation der Geistesruhe am besten stufenweise, indem man versucht sich für kurze Zeitperioden zu konzentrieren – man kann das am Anfang nicht zu lange tun. Für den Geist ist es nicht natürlich, über lange Zeit völlig auf einem Objekt zu ruhen. Man muss das erst üben, genauso, wie wenn man seinen Körper trainiert. Wenn man es in der ersten Stunde im Fitness-Center übertreibt, kann man den Tag danach gar nicht trainieren, denn man hat Schmerzen. Der Geist funktioniert genauso: Wenn wir ungeschickt sind und ihn zu sehr zu etwas zwingen, dann könnte man sogar eine Abneigung gegen Meditationszustände entwickeln. Deswegen ist es ganz wichtig, hier geschickt vorzugehen.
Man kann am Anfang nicht über lange Zeit völlig einsgerichtet sein, der Geist wird einfach in alle Richtungen abschweifen. Es ist nicht einfach, die Konzentration wieder herzustellen und auch das Bemühen sie zurückzubringen, sollte nicht zu angestrengt erfolgen.
Die beste Weise Shine zu trainieren ist, dies sehr intensiv für kurze Momente zu tun und den Geist dann zu entspannen. Danach wieder sehr intensive Konzentration und wiederum Entspannung. In dieser Weise kann man gut und über lange Zeit üben. Im Laufe der Zeit wird es sich natürlicher anfühlen und es wird sich auch natürlicherweise Freude daran einstellen.
Zu meditieren ist etwas Freudvolles. Wir sind wirklich in einer glücklichen Lage, dass wir das üben können. Niemand befiehlt uns zu meditieren. Niemand zwingt uns oder lässt uns Schuldgefühle haben, wenn wir nicht meditieren. Das würde überhaupt nicht funktionieren. Die Freude an der Meditation wächst natürlicherweise in uns heran. Wenn man sich ein wenig an die Konzentration gewöhnt hat, kann man versuchen sie zu verlängern. Es werden dann verschiedene Erfahrungen kommen – und man muss besonders darauf aufpassen, dass man nicht an den angenehmen anhaftet.
Shine-Erfahrungen
Es gibt einige ganz typische Erfahrungen – wie zum Beispiel einen Zustand von Wonne, der physisch oder geistig erlebt werden kann. Auch kann man Erfahrungen davon haben, dass der Geist völlig ungestört ist, einfach total friedlich. Es gehen dann nicht mehr all die üblichen Dinge in ihm vor und es kommen keine Gedanken auf. Der Geist ist einfach sehr ruhig, sehr angenehm und völlig entspannt. Und schließlich kann man konzeptfreie Geisteszustände erleben. Das ist aber noch nicht die Erfahrung der Leerheit selbst, denn es geht kein Verständnis damit einher.
Diese drei Erfahrungen von Freude, Klarheit und Freiheit von Konzepten entstehen irgendwann durch das Üben von Shine. Es ist etwas völlig Normales, es ist nichts Besonderes daran. Wenn man sie hat, sollte man es einfach dabei belassen und gleichmütig bleiben. Man sollte nicht zu aufgeregt darüber werden, sondern einfach mit der Meditation weitermachen. In der nächsten Sitzung denkt man nicht zu viel darüber nach, ob diese Geisteszustände wieder kommen werden oder nicht.
Diese drei Erfahrungen sind ein ganz normales Resultat von Shine-Praxis. Aber bevor man sie erlebt, kann man unter Umständen viele weniger angenehme Geisteszustände erleben. Es kann sogar vorkommen, dass man den Eindruck hat, dass alles schlimmer wird, dass man mehr Gedanken und Verwirrung hat. Aber das liegt nur daran, dass man plötzlich sieht, was die ganze Zeit schon da war – so ist der Geist nun einmal. Das ist ein weiterer Grund mit der Praxis fortzufahren.
Lhagtong
Die andere Art von Meditation – die "Meditation der Einsicht", "Vipashyana" auf Sanskrit und "Lhagtong" auf Tibetisch – macht buddhistische Praxis zu etwas Besonderem und Ungewöhnlichem. Es ist eine Art von Meditation, die man nicht überall findet, aber durch sie wird die Praxis erst befreiend. Das Verständnis, das wir auf dieser Ebene erlangen, führt uns weiter als nur zu einem angenehmen Zustand. Es führt uns völlig jenseits aller Konzepte, jenseits von Samsara, jenseits der normalen bedingten Existenz. Es ist Lhagtong, was uns letztendlich zuerst befreien und dann erleuchten wird.
Es ist nicht einfach, über die Resultate der Einsichts-Meditation zu sprechen oder sie zu beschreiben, denn sie gehen eigentlich jenseits dessen, was man intellektuell verstehen kann. Man muss sie durch eigene Erfahrung begreifen. Wir haben das unglaublich große Glück, dass in den bei uns verwendeten Übungen diese Art von Meditation enthalten ist. Sie macht es uns möglich, auf solch eine Ebene zu gelangen.
Es gibt zwei Arten der Meditation der Einsicht – nicht jeder ist sich darüber im Klaren. Die erste ist die "analytische" Art der Einsichts-Methode und die zweite die – nennen wir es einmal so – "nicht-analytische" Einsicht. Vielen Praktizierenden ist nicht bewusst, dass die analytische Art tatsächlich eine Einsichts-Meditation ist. Sie denken, dass es gar keine Meditation sondern etwas Intellektuelles sei. Aber das ist nicht der Fall.
Bei der analytischen Einsichts-Meditation untersucht man zum Beispiel seinen eigenen Geist oder versucht, das eigene Selbst zu finden. In den Mahayana-Belehrungen findet man hierfür viele Mittel. Es ist nicht so, dass man nur in dieser Weise nachdenkt, sondern man versucht wirklich zu schauen wo das eigene Selbst ist – was ist die Identität, die man glaubt zu sein? Man sucht nicht nur in intellektueller Weise, man versucht es wirklich zu "sehen". An einem gewissen Punkt in diesem Prozess, nach einiger Übung, bekommt man eine Art von Erfahrung, eine Idee. Das ist dann zwar immer noch etwas eher Intellektuelles, aber es geht doch eine gewisse Erfahrung mit diesem Konzept einher, ein gewisses Verständnis davon, dass nichts wirklich unabhängig Existierendes zu finden ist. Durch eine analytische Herangehensweise kommt man an diesen Punkt und wenn man das Verständnis gewonnen hat, meditiert man darauf, indem man eine Zeitlang in diesem Verständnis verweilt. Das ist dann die Meditation. Es ist eine der Herangehensweisen, die Buddha lehrte, um zum letztendlichen Verständnis zu gelangen.
In den Methoden, die in unseren Zentren genutzt werden – den Grundübungen, Meditation auf Buddha-Aspekte, dem Großen Siegel etc. – ist die Einsichts-Meditation vor allem in der Vollendungsphase (tib. Dzogrim) enthalten. Wenn wir auf Buddha-Aspekte meditieren, haben wir immer eine Phase, in der sich all das zuvor Vorgestellte wieder auflöst und es gibt dann einige Momente, in denen der Geist ohne jeden Bezugspunkt verweilt. Es gibt dann nichts, wonach man greifen würde, man ist einfach nur da. Dieser Zustand in sich – wenn man zuvor seinen Geist durch Konzentration auf eine bestimmte Buddha-Form zur Ruhe gebracht hat - kann uns ein Verständnis geben, eine Erfahrung von der Natur des Geistes und aller Dinge. In diesem Geisteszustand ruht man dann für eine Weile.
Um aber zu diesem Verständnis der Verwirklichung zu kommen, muss man – wie gesagt – seinen Geist erst etwas zur Ruhe gebracht haben. Einsicht könnte anders gar nicht im Geist entstehen. Wenn es nicht nötig wäre, den Geist erst zu beruhigen, könnte man sich einfach hinsetzen und wäre schon in Mahamudra. Es wäre nichts dagegen einzuwenden, aber leider funktioniert der Geist nicht so. Man muss ihn Schritt für Schritt trainieren und dann klappt es schließlich.
Unsere Methoden
Unsere Methoden sind eigentlich eine Kombination aus Geistberuhigung und Einsicht, wodurch die Praxis für uns erleichtert wird. Je nach dem auf welcher Ebene wir uns in der Arbeit mit dem Geist befinden, kommen die kurzen Momente von Einsicht früher oder später. Es ist völlig individuell, wann das sein wird, aber die Struktur der Meditationen ist so angelegt, dass es immer möglich ist, Geistesruhe und Einsicht zu kombinieren. In dieser Weise wird man nie auf irgendeiner Ebene steckenbleiben, man kann die Praxis immer auf der nächsten Ebene weiterführen.
Das ist sehr sinnvoll, denn anderenfalls besteht das Risiko, dass man sich damit zufrieden gibt, einfach nur in einem angenehmen Zustand von Shine zu verweilen, weil dieser sich so gut anfühlt. Man könnte dann vergessen, dass es mehr zu lernen gibt, dass man mehr Einsicht braucht, nämlich das letztendliche Verständnis der Natur des Geistes und der Natur von allem.
Das ist die Theorie dazu, wie unsere Meditationen aufgebaut sind. Wir haben als Praktizierende sozusagen einen "gemeinsamen Plan": Wir alle beginnen mit der Zufluchts-Meditation, gehen weiter mit den Verbeugungen, dann Diamantgeist, Mandala und Guru-Yoga. Nach diesen Grundübungen gehen wir für gewöhnlich mit der Meditation auf den 8. Karmapa weiter.
Aber wie das dann für den Einzelnen läuft, ist sehr individuell. Ob man sehr schnell und konzentriert durch die Übungen geht oder ob man sich dafür viele Jahre nimmt, liegt an jedem selbst. Es gibt keine festen Regeln dafür, das würde völlig an der Sache vorbei gehen. Die Methode steht zur Verfügung und jeder Übende muss herausfinden, was für ihn oder sie dann am besten passt, wie man also die Übungen in der bestmöglichen Weise im eigenen Leben nutzt, so dass man auch spürt, dass sie ihre Wirkung zeigen.
Wir sollten uns auch immer wieder daran erinnern, warum wir die Praxis machen. Sie ist ja nicht etwas von uns Getrenntes, etwas Äußeres, das nichts mit uns zu hat und das wir machen müssen. Nein, es geht um unseren eigenen Geist. Wir arbeiten mit ihm, weil wir wollen, dass er klarer wird und wir wollen ihn verstehen. Das ist der springende Punkt und alles andere im Buddhismus dient nur dazu, dass das eintritt. Das sollten wir nie vergessen.
Diese ganze Arbeit unseren Geist kennenzulernen machen wir, weil unser Geist und der Geist aller anderen Wesen alle möglichen Qualitäten hat. Jede Art von Reichtum ist in ihm enthalten, aber wir können das jetzt einfach noch nicht sehen. Je mehr wir aber dahin kommen, das zu sehen und zu erleben, umso mehr können wir auch anderen helfen, ihren Geist zu erkennen. Deswegen machen wir die Praxis.
Jeder der praktiziert, wird auch Resultate bekommen. Welche Hindernisse auch auf dem Weg aufkommen sollten, wir sollten sie nicht zu Hindernissen werden lassen – in der gleichen Weise wie wir die Meditationserfahrungen als etwas sehen, worauf wir nicht einsteigen und dem wir nicht folgen. Es gibt nur dann wirklich Hindernisse, wenn wir sie für real halten, wenn wir sie also zu Hindernissen machen. Anderenfalls kommen und gehen sie, wie alles andere auch und wir machen einfach weiter. Wir selbst entscheiden, ob es Hindernisse sind oder nicht.
Fragen und Antworten
In der Vollendungsphase der Meditation auf den 16. Karmapa löst sich alles auf, bei den Verbeugungen und Diamantgeist zum Beispiel aber nicht. Was ist der Unterschied?
In den Grundübungen, bei Verbeugungen und Diamantgeist, arbeitet man noch nicht so viel mit der Einsicht. Die Vollendungsphase ist hier eher als Segen zu verstehen. Man steigt hier noch nicht tiefer ein, das kommt erst später.
Während der Grundübungen meditiert man also noch nicht auf die Leerheit?
Natürlicherweise dauert es eine Weile, bis man das überhaupt wirklich kann und deswegen wird es bei den Grundübungen noch nicht betont. Das ist ja auch der Grund für die Reihenfolge der Übungen: Man beginnt mit Verbeugungen und geht dann weiter mit Diamantgeist, weil es geschickte Mittel sind um den Geist zu klären, damit man dann tatsächlich mehr von der letztendlichen Natur erfahren und verstehen kann.
Es ist sehr individuell. Der "Plan" ist zwar für alle gleich, aber was dann wann in der Praxis heranreift, ist individuell. Es hängt sehr vom einzelnen ab, auf welcher Stufe er in der Meditation die Erfahrungen macht. Es ist auch individuell, wie man die Meditationen verwendet: Einige Menschen ziehen es vor und sind sehr gut darin, sich auf Formen, Farben usw. zu konzentrieren, wohingegen andere Leute andere Aspekte der Meditation bevorzugen. Nichts davon ist gut oder schlecht, es sind einfach nur verschiedene Gewohnheiten im Geist.
Obwohl man nicht sofort auf die Leerheit meditiert, ist es aber doch ein wichtiger Teil der buddhistischen Praxis, eine gewisse Idee davon zu haben, was mit der Leerheit gemeint ist. Das ist der befreiende Aspekt unserer Praxis und was Buddhismus so besonders macht. Schon bevor man eine Erfahrung von Leerheit hat, ist es Teil unserer Praxis, eine Idee von der Leerheit zu haben und sich mit ihr vertraut zu machen.
Das ist aber etwas sehr Subtiles: Man sollte seine Ideen über Leerheit nicht zu sehr verfestigen und auch nicht zu viel auf eigene Faust herumexperimentieren. Man braucht authentische Erklärungen dazu und sollte sich nicht nur irgendwas ausdenken und darüber herumrätseln. Wenn man Ideen darüber hat, ist es wichtig, sie zu überprüfen. Leerheit ist etwas, das wir nicht gewohnt sind, wir lernen nichts darüber in der Schule. Das Verständnis ist subtil und kann trügerisch sein.
Wenn man anfängt mit den Meditationen auf Buddha-Aspekte zu arbeiten, lernt man, wie wichtig es ist, diese Formen nicht als real zu vergegenwärtigen, also nicht aus Fleisch und Blut bestehend. Dieses Verständnis von Leerheit muss man in die Meditation einbringen. Wenn man ohne es meditiert und sich einfach nur einen "Körper" da draußen vorstellt, hat man den Punkt verfehlt: Nämlich, dass es Formen von Licht und Energie sind.
Du sagest, es sei gut, mit dem Beruhigen des Geistes anzufangen. Warum wird dann Shine-Meditation bei uns normalerweise nicht so sehr betont?
Das wird sie! Deswegen habe ich erklärt, dass sie in unseren Übungen enthalten ist. Von der ersten Zufluchts-Meditation an praktiziert man auch Shine. Man konzentriert sich auf die Buddhas vor einem im Raum und sie sind das Objekt der Konzentration. Das ist ebenfalls Shine.
Wir betonen aber nicht so sehr die Art von Shine, bei der man auf den Atem meditiert?
Zu Beginn jeder Meditation machen wir das über ein paar Atemzüge. Aber wie ich schon erklärte: All die Meditationen, die Buddha lehrte, haben immer diese beiden Aspekte. Ganz gleich, wie es genannt wird: Es ist entweder Shine oder Lhagtong oder beides.
Es gibt zum Beispiel Shine-Methoden, die dann auch "Shine" genannt werden. Die tantrischen Meditationen auf die Buddha-Aspekte sind aber identisch mit Shine. Die Entstehungsphase (tib. Kyerim), bei der man auf die Formen, Mantras usw. meditiert, ist ebenfalls Shine.
Wenn man nach den Grundübungen mehr in Meditationen direkt auf den Geist einsteigen will – was wir im Rahmen der Meditation auf den 8. Karmapa tun – hat man dann speziell dafür verschiedene Shine- und Lhagtong-Methoden.
Was kann man tun, wenn man direkt vor der Meditation sehr schläfrig wird?
Und wenn nebenan ein guter Film läuft, ist man hellwach? (Hannah lacht) Das ist einfach ganz typisch dafür, wie die Gewohnheiten arbeiten. Ich bin sicher, dass du nicht der einzige mit diesem Problem bist. Man braucht Geduld und muss einfach da durch gehen und sich auch etwas überwinden. In der eigentlichen Meditation soll man sich ja nicht zwingen, aber dieses "Syndrom" muss man einfach, wie jede Gewohnheit, durchbrechen. Jedes Mal wenn man es geschafft hat, ist es beim nächsten Mal leichter, damit umzugehen. Schläfrigkeit während der Meditation ist wiederum etwas anderes. Wenn der Geist lernt, sich zu konzentrieren, wird er entweder mit Schläfrigkeit oder Aufregung reagieren. Diese Reaktion ist am Anfang nicht zu vermeiden. Deswegen halten wir die Konzentrationsphasen kurz, unterbrechen oft und lassen nicht zu, dass solche Zustände zu lange andauern. Würde man nicht unterbrechen, sondern zulassen, dass man in Schläfrigkeit oder Aufregung verweilt, würde das zu nichts führen.
Wenn ich schläfrig werde oder mein Geist aufgewühlt ist, höre ich immer auf zu meditieren. Das passiert ziemlich oft.
Man sollte nicht die Meditation beenden, sondern den Geisteszustand durchschneiden. Je nachdem, wie lange man sitzt, schneidet man für einen Moment durch, denkt an nichts Bestimmtes und bringt den Geist dann wieder auf die Meditation zurück. Wenn man in der Praxis etwas geübter ist und längere Sitzungen macht, kann man auch dann schon durchschneiden, wenn es sich noch gut anfühlt. Das ist ein Trick in der Arbeit mit dem Geist: Schneidet man durch, bevor man die Konzentration verloren hat, ist der Geist froh, danach wieder weitermachen zu können.
Wenn man Shine auf den Atem macht, soll man dann die Augen halb geöffnet oder ganz geschlossen haben? Und wie macht man es danach in der weiteren Meditation?
Bei Konzentration auf den Atem hält man sie am besten halb geöffnet. In der Entstehungsphase ist es normalerweise leichter, wenn man sie geschlossen hat und in der Vollendungsphase ist es gut, sie halb offen zu haben und nicht die ganze Zeit geschlossen. Wenn man dann für einen Moment ohne irgendeinen Bezugspunkt im Geist sitzt, ist es gut die Augen ab und zu auf zu machen.
Im täglichen Leben versuche ich mir immer wieder Buddha vorzustellen und ihm nahe zu sein. Ist das dann Shine-Meditation?
Nein, wenn ich davon spreche, dass alle Meditationen entweder Meditation der Geistesruhe oder Einsichts-Meditation sind – ob sie so genannt werden oder nicht – dann bezieht sich das auf die eigentliche Meditationssitzung. Alles, was ich erklärt habe – was Shine ist, die verschiedenen Arten von Shine, also mit oder ohne Objekt und verschiedene Arten von Ausrichtung im Geist und wie man lernt, nicht abgelenkt zu werden und schließlich dann Lhagtong, um die wahre Natur zu erkennen – bezieht sich auf die Phase der eigentlichen Meditation.
Danach ist man dann in der Phase von Nach-Meditation und da spricht man nicht von Shine und Lhagtong. In der Phase der Nach-Meditation trainiert man sein Gewahrsein und seine Motivation und wie man das tut, hängt völlig davon ab, wo man in seiner Entwicklung steht. Wenn man schon etwas von der letztendlichen Natur erkannt hat, aber noch nicht voll erleuchtet ist, dann durchläuft man die verschiedenen Bodhisattva-Stufen. Der Unterschied zwischen den Stufen ist der Grad, in dem man mit der Nach-Meditation umgehen kann. In der eigentlichen Meditation gibt es hier keinen Unterschied mehr, man hat die wahre Natur der Dinge verwirklicht. Die Frage ist dann aber, wie gut man das in der Nach-Meditation halten kann. Das macht dann den Unterschied zwischen den Bodhisattva-Stufen aus – wie gut hat man seine Meditation in die Nach-Meditation integrieren können? Volle Erleuchtung bedeutet, dass es zwischen den beiden überhaupt keinen Unterschied mehr gibt.
Wie trainieren wir im Diamantweg unsere Nach-Meditation? Indem wir die höchste Sicht halten?
Ja, es ist die Übung der höchsten Sicht. Aber man muss in der Nach-Meditation für alle Ebenen der Praxis offen sein. Wenn man kann, identifiziert man sich mit der höchsten Ebene. Wenn das möglich ist, ist das wunderbar. Aber tatsächlich kann man nicht immer die höchste Ebene halten. Wenn man es könnte, wäre man tatsächlich schon dort.
Man muss einfach in jeder Situation schauen, was möglich ist. Wenn es funktioniert, dass man sich einfach einer Situation gewahr ist und durch dieses Gewahrsein alle Probleme verschwinden, wenn es keine Störgefühle mehr gibt und nur noch höchste Weisheit, dann ist das natürlich das Beste. Falls das aber nicht klappt, muss man etwas anderes probieren. (Hannah lacht)
Manchmal ist es zum Beispiel sehr hilfreich, ein Mantra zu wiederholen, denn dann hat man sofort einen Filter, der einem ermöglicht, nicht mehr völlig eingefangen zu werden. Es gibt einem etwas Raum.
Manchmal kann man auch in eine Lage geraten, mit der man einfach nicht umgehen kann und dann muss man sich wenigstens gut benehmen. Vielleicht muss man dafür aus dem Zimmer gehen, damit man nicht jemandem weh tut oder etwas Dummes sagt oder tut. So muss man immer schauen, was möglich ist.
Die höchste Sicht zu halten ist natürlich das Effektivste, denn wenn man diese Gewohnheit einmal hat, hören viele Schwierigkeiten einfach auf. Sie können sich nicht halten, denn es fehlt ihnen die Basis und jeder Bezugspunkt. Aber man muss damit arbeiten.
Eine ganz wichtige Sache ist auch, ganz bewusst Mitgefühl zu entwickeln. Es ist wirklich wichtig, jeden Tag damit zu beginnen, dass man sich daran erinnert. Das muss nicht lange sein, aber einfach nur einen Moment sich bewusst zu sein, wie viele Wesen es gibt und wirklich zu wünschen, dass jedes von ihnen frei von Leiden sein soll. Zu wünschen, dass alles was man während des Tages tut, ihnen irgendwie nutzen soll, macht einen großen Unterschied. Wenn man danach dann seinen Tag beginnt, wird nichts was man tut, völlig umsonst gewesen sein. Selbst wenn man einen schlechten Tag hat, wird dieser Wunsch einen leiten und Nutzen bringen. Wir beginnen den Tag mit dem richtigen geistigen Rahmen und halten dann so viel Bewusstheit wie möglich: Wir sind uns des Geistes bewusst und achten darauf, nicht die ganze Zeit von unseren Gewohnheiten gefangen zu werden.
Man hat manchmal Zeiten, die richtig schwierig sind und man schafft es einfach nicht, etwas Abstand zu schaffen. Wenn man so richtig am Boden ist, dann hilft auch die Meditation von "Geben und Nehmen" (tib. Tonglen) sehr. Man bleibt dann einfach nicht in seiner kleinen persönlichen Welt gefangen, sondern schaut aus dem Blickwinkel, dass man nicht der einzige ist, der dieses Problem hat. Billiarden von Wesen haben das gleiche Problem, sogar schlimmer als man selbst. Man wünscht dann, dass alles was man durchmachen muss, zumindest den Zweck haben soll, dass andere davon frei werden. Dadurch transformiert man es tatsächlich, so dass das Problem nicht mehr das "eigene kleine Leiden" ist.
Es ist also gut auf verschiedenen Ebenen zu arbeiten, aber das Wichtigste ist, dass man es überhaupt tut und nicht zu lange damit wartet. Es kann sehr leicht geschehen, dass man zu lange wartet, bevor man sich bewusst wird, dass man etwas tun muss und dann wird es schwieriger es auch wirklich zu tun.
Gibt es ein Mantra oder eine andere Methode, mit der man Menschen gegen ihre Angst helfen kann?
Es hängt von den Menschen selbst ab. Für Buddhisten ist es eine sehr große Hilfe, wenn Vergänglichkeit zu etwas Natürlichem wird. In unseren Gesellschaften wird uns das ja nicht gelehrt und so ist es schwer für uns, mit Vergänglichkeit und Tod umzugehen. Dieses Thema ist entweder tabu oder erschreckend.
Die Bewusstheit über die Vergänglichkeit aller Dinge ist äußerst hilfreich, insbesondere in der heutigen Zeit. Es wird ja gerade sehr offensichtlich – auch im Großen, mit all den großen Katastrophen usw. – wie vergänglich alles ist, dass alles sich verändert, usw. Das zeigt, wie die Dinge ihrer Natur nach sind: Nämlich nicht dauerhaft. Aber es ist sehr hart, wenn man darin verwickelt ist, denn man ist nicht damit vertraut. Es ist eine harte Belehrung, aber je früher man sie lernt, umso besser, denn dann tut es weniger weh. Man kann es nicht ändern, also lernt man lieber damit umzugehen.
Man kann lernen, dass Vergänglichkeit keine Tragödie sein muss. Sie ist einfach nur die Weise, wie die Dinge sind. Natürlich gibt es schlimme Dinge, wie zum Beispiel Mord, aber die Tatsache selbst, dass die Dinge vergänglich sind, ist nicht etwas, wovor man Angst haben muss. Man muss sich jedoch damit vertraut machen, dass es nun mal so ist, dann ist es weniger leidvoll. Schließlich ist die Vergänglichkeit der Dinge ja auch die Grundlage dafür, dass gute Dinge geschehen können.
Das ist ein großes Thema und ich kann die Angst der Menschen gut verstehen. Wenn ich keine Idee von Karma, Vergänglichkeit usw. hätte, könnte ich verrückt werden. Ohne eine Perspektive oder eine Sicht davon, was wirklich vor sich geht, scheint alles völlig verwirrend und sinnlos zu sein. Das muss sehr beängstigend sein. Ich denke, es ist verständlich, dass Menschen es nicht aushalten.
Das ist ein weiterer Grund für unsere Praxis: Das Mitgefühl. Das alles sollte uns inspirieren, fähig zu werden, mehr für andere zu tun.
Worum geht es bei den Theravada-Vipassana-Kursen, von denen man so oft hört? Was wird dort gemacht?
Beim Theravada-Vipassana geht es vor allem um das Training der Bewusstheit. Also nicht nur Konzentration, sondern auch Bewusstheit davon, was man tut. Das ist der Punkt, an dem sie im Theravada tiefer hinein gehen, man wird sich seiner Bewegungen usw. bewusst. Ich kann dazu nichts aus eigener Erfahrung sagen, nur was ich von anderen gehört habe und was ich darüber gelernt habe, was Buddha in dieser Schule lehrte.
Die wichtigste Einsicht im Theravada ist das Verständnis der Selbstlosigkeit, also dass es kein Ego gibt. Wenn man das einmal verwirklicht hat, ist man nicht mehr in Samsara gebunden. Auf diesem Weg erlangen die Theravadins ihre Befreiung: Sie verwirklichen, dass es keine real existierende Person gibt. Dafür haben sie auch eine analytische Praxis, aber soviel ich weiß, gehen sie auf diesen 10-Tage-Vipassana-Kursen von denen man hört, nicht so tief in die Philosophie.
Die Verwirklichung in dieser Schule ist, dass es keine reale Person gibt, was man auch im Mahayana und Vajrayana realisieren muss. Aber hier kommt noch etwas dazu: Nämlich, dass man sich auch auf die äußere Welt konzentriert und zu dem Verständnis kommt, dass auch sie keine unabhängige Existenz hat. Alles entsteht aus vielen Ursachen und Bedingungen, nichts existiert einfach in sich ohne irgendeine Ursache. Aus diesem Grunde ist alles dynamisch. Wenn die Dinge eine unabhängige Existenz in sich selbst hätten, wären sie statisch. Entweder gäbe es nichts oder alles wäre immer da, was ja offensichtlich nicht der Fall ist. Genau diese Qualität der Dinge, dass sie nicht statisch und nicht unabhängig existent sind – was wir ihre "Leerheit" nennen – macht es möglich, dass alles geschehen kann.
Mit der "gewöhnlichen" unerleuchteten Wahrnehmung ist man sich dessen nicht bewusst. Wir haben die Gewohnheit in unserem Umgang mit uns selbst, mit anderen Leuten und mit allem was geschieht, alles für sehr real zu halten. Deswegen haben wir Probleme. Die Meditation ändert diese Gewohnheit im Geist, aber es geschieht Schritt für Schritt. Das Resultat davon wird sein, dass die Konzepte, die grundlegende Verwirrung oder Unwissenheit, sich auflösen. Das geschieht in der Lhagtong-Meditation, aber noch nicht im Shine. Man kann durchaus eine sehr gute Shine-Meditation haben, aber mit völlig falscher Sicht – da gibt es keinen Widerspruch. Durch die Shine-Meditation kann man sogar Wunderkräfte erlangen, ohne dass man deswegen erleuchtet wäre. Aus diesem Grunde werden Wunderkräfte auch nicht so betont, es ist einfach zu trügerisch. Erleuchtete Wesen können natürlich alles Mögliche bewirken. Aber diese Tatsache wird nicht so sehr betont, damit die Leute nicht denken, Wunderkräfte zu haben würde bedeuten, man wäre deswegen auch erleuchtet.
Warum ist eine ungebrochene Übertragung des Mahamudra so wichtig?
Mahamudra (tib: Chagchen) ist die wichtigste Übertragung der Kagyü-Linie. Das Resultat der Mahamudra-Praxis ist Verwirklichung, aber man kann dieses Resultat natürlich auch mit den anderen Praktiken in den verschiedenen Schulen des tibetischen Buddhismus erlangen. Die Nyingmapas nennen es zum Beispiel Maha Ati (tib: Dzogchen). In den verschiedenen Schulen gibt es unterschiedliche Namen für die Sachen, aber die letztendlichen Lehren sind gleich.
Die Herangehensweise ist verschieden, man betont unterschiedliche Weisen um zur letztendlichen Verwirklichung zu gelangen und die Übertragungen durch die Lehrer sind verschieden. Aber die letztendliche Natur, die man dann verwirklicht, ist natürlich die gleiche.
Wichtig ist, dass die Übertragung, der man folgt, authentisch ist, nie gebrochen wurde und dass man sie auch bekommt. In Tibet hat man es geschafft, den Buddhismus über lange Zeit sehr gut zu erhalten. Zuerst wurde wirklich alles aus dem Sanskrit übersetzt und das war sehr viel. Heute gibt es Texte in Tibetisch, die auf Sanskrit gar nicht mehr existieren. Diese Übertragung war also vollständig und ebenso die Übertragung der Tantras: Jedes Tantra, das man heute bekommt, wurde übertragen – sonst wäre es ausgestorben. Hier hat zum Beispiel die Rime-Bewegung des ersten Jamgön Kongtrul zusammen mit Chokgyur Lingpa und anderen – vier Lehrer insgesamt – eine hervorragende Arbeit geleistet. Einige Übertragungen waren vom Aussterben bedroht und diese Lehrer schafften es, viele von ihnen zu bewahren, so dass wir sie heute bekommen können.
Buddhismus ist ja noch neu im Westen, gerade mal 30 Jahre. Es gab vorher schon etwas Buddhismus in Europa, aber buddhistische Praxis in der modernen Welt gibt es erst seit kurzer Zeit. Und allein in dieser kurzen Zeit war es sehr schwer alles authentisch zu bewahren, denn die Sachen werden sehr leicht völlig verändert. Nur in dieser kurzen Zeit musste man schon sehr vorsichtig sein, um die Authentizität zu bewahren. Wir befinden uns im Prozess, den Buddhismus für die Menschen verwendbar zu machen und zugleich muss er authentisch bleiben. Es ist auch sehr schwierig, den Buddhismus in verschiedene Kulturen zu übertragen und zugleich sein Wesen zu bewahren.
In dieser kurzen Zeit wurden wir wieder und wieder mit diesem Problem konfrontiert. In Tibet hat man das tatsächlich über hunderte von Jahren hin sehr gut geschafft. Dass es dort funktioniert hat, liegt daran, dass es genug Menschen gab, die die Resultate bekamen, die also verwirklicht wurden. Sie sicherten die Übertragung und das ist jetzt die Herausforderung für uns. Es geht darum die Übertragung zu bewahren, dann kommt auch der Nutzen.
Natürlich werden es nie viele sein, die das schaffen. Auch in Tibet waren es nicht viele, es werden immer nur sehr, sehr wenige sein. Aber es ist wichtig, dass es überhaupt einige sind. Wenn die Übertragung da ist, authentisch ist und genutzt werden kann, dann hat jeder den Nutzen davon. Gerade jetzt haben wir alle den Nutzen, denn sie ist noch da wegen all dem was die anderen vor uns getan haben.
Vortrag in San Francisco, 2002
Bearbeitet und übersetzt von Detlev Göbel und Claudia Knoll
Hannah Nydahl (1946 - 2007)
war eine der gefragtesten Übersetzerinnen aus dem Tibetischen ins Englische, Deutsche oder Dänische. Die Hälfte des Jahres übersetzte sie für Lamas am Karmapa International Buddhist Institute (KIBI ) in New Delhi, Indien, wo sie sowohl an der Übersetzung zahlreicher buddhistischer Texte beteiligt war, als auch die Reisen hoher Lamas der Karma-Kagyü Linie organisierte. Die andere Hälfte des Jahres reiste sie mit ihrem Mann Lama Ole Nydahl um die Welt. Besonders wegen ihrer Arbeit als Sprecherin und Vertreterin für die buddhistische Übertragung der Tibeter wurde sie später oft "Mutter des Buddhismus" genannt.
Hannah und Ole Nydahl wurden 1969 die ersten westlichen Schüler des 16. Gyalwa Karmapa, dem Oberhaupt der tibetisch-buddhistischen Karma-Kagyü-Tradition. Nach einigen Jahren der Ausbildung im Himalaya bat er die beiden, den Buddhismus in den Westen zu bringen. Seit 1972 verbrachten beide ihr Leben mit Reisen und Lehren und mit dem Gründen von weltweit über 600 Meditationszentren.