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BUDDHISMUS HEUTE
Aus: Buddhismus Heute Nr. 50, (Herbst 2011)

Hingabe

Ein Interview mit Lama Ole Nydahl

Im Diamantweg-Buddhismus wird die Hingabe zum Lehrer, dem Lama, als besonders wichtig gesehen. Aus deiner Sicht als Diamantweg-Lama: Was ist das richtige Verständnis zu dieser Hingabe?


Gesunde Hingabe entsteht von selbst, wenn man einer vertrauensvollen Verbindung aus einem früheren Leben begegnet oder etwas findet, das mit den eigenen tiefsten Neigungen übereinstimmt. Werden diese klar und sinnvoll widergespiegelt, ist es so, als würde man das schönstmögliche eigene Gesicht im Spiegel sehen.

Wir werden von Gesprächen und Taten anderer begeistert, die die Menschen dauerhaft beglücken und die uns selbst überzeugender und nützlicher für andere machen. Diese werden anfangen, uns als gute Beispiele zu sehen und selbst danach streben, ähnliche Eigenschaften zu entwickeln. So entsteht eine Übertragung, die mit Buddhas voller Erfahrung des Wesens des Geistes vor 2450 Jahren begann.

Der schnellste Zugang zur Erleuchtung ist deshalb eine enge Verbindung zum eigenen Lehrer. Hier reifen sehr viele Eigenschaften des Geistes heran und es entsteht "begeisterte Einfühlung". Begeisterungsfähigkeit und das tiefe Vertrauen in den Lehrer als Ausdruck der einem innewohnenden Möglichkeiten sind sehr wirksame Mittel zum Auflösen eigener Grenzen und Gewohnheiten.
Die Hingabe, die dabei entsteht, muss jedoch unbedingt mit menschlicher Reife verbunden sein und der Lama als Spiegel der eigenen Eigenschaften verstanden werden. Vertrauen zum Lehrer darf nicht zu Unselbständigkeit, Humorlosigkeit oder zwanghafter Nachahmung führen. Stattdessen soll der Lehrer geschickt dem Schüler den furchtlosen Raum jenseits von Geburt und Tod erschließen, den er sich selbst erkämpft hat und ihn dadurch selbstständig machen. In der Freiheit dieses Raumes ständig spiegelnder Erfahrungen findet man die vollkommenen Eigenschaften, die dem Geist eines jeden schon immer innewohnen.

Hingabe sollte also aus dem Wunsch entstehen, bestimmte als sinnvoll erachtete und von einem Lehrer überzeugend gezeigte Qualitäten, wenn möglich zum Besten aller, übernehmen zu wollen. Das macht Hingabe leider zu etwas Unberechenbarem; denn ist man ein schlechter Mensch, wird man sich zu üblen Lehrern hingezogen fühlen und ihre schwierigen Eigenschaften übernehmen. Als Folge gibt es "heilige" Kriege, Frauen und Freiheiten werden unterdrückt und es entsteht riesiges Leid.
Ist man jedoch für einen verantwortungsvollen Lehrer mit guten Werten offen, ist das hilfreich und bedeutet häufig eine schnelle Entwicklung. Von einem lebenden menschlichen Beispiel kann man wertvolle Eigenschaften und Verhalten übernehmen und so fähig werden, anderen und sich selbst zu nutzen. Alles hängt davon ab, ob der Gegenstand der eigenen Hingabe nutzbringend oder schädlich ist.
Im Buddhismus ist das Ziel Befreiung und Erleuchtung, nicht Macht, und Lehrer mit schädlicher Wirkung waren deswegen immer die große Ausnahme, es sei denn sie waren politisch eingebunden und unfrei. Wenn Lehrer hart mit ihren Schülern umgingen, geschah das nicht, um persönlichen Vorteil aus der Lage zu ziehen, sondern um die Schüler sehr schnell durch bestimmte Stufen ihrer Entwicklung zu führen. In dieser Weise half Marpa Milarepa, und noch auffälliger Tilopa seinem Schüler Naropa.
Ich würde also sagen, dass das gesunde Gefühl von Hingabe, so wie wir es kennen, nicht gestört werden muss, solange keine Politik im Spiel ist und die Lage überschaubar bleibt. Da es darum geht, feine menschliche Qualitäten hervorzubringen, hat es eine gute Auswirkung, solange es das Ziel des Lehrers ist, selbstständige Schüler noch bewusster zu machen und solange kein Hintergedanke da ist, sie zu Rädchen in seiner Organisation zu machen. Wird die Hingabe anderer aber dazu benutzt, sie zu beherrschen, sollte dies offengelegt werden. Andere Menschen auszunutzen, ist eine Versuchung, für die, soweit ich weiß – ich hoffe es zumindest – unsere Diamantweg-Karma- Kagyü-Schule des Buddhismus zu frei und durchsichtig ist, als dass Lehrer dies überhaupt nur versuchen könnten.

Du hast früher einmal gesagt, dass es im alten Tibet Mittel gab um einen Lehrer zu prüfen, und es gab ein System, mit dem sie das wohl recht effektiv tun konnten.
Zuerst einmal sollte ein Lehrer in einer Linie stehen, die auf einer ungebrochenen Übertragung von Buddhas Lehren beruht und von den eigenen Lehrern anerkannt ist. Zweitens, so sagen oder sagten manche Tibeter: "Erst prüft der Lehrer für drei Jahre den Schüler, dann der Schüler den Lehrer über drei Jahre hinweg. Wenn sie sich einig sind, kann dann der Austausch beginnen."
Und nach sechs Jahren entdeckt man dann also plötzlich Hingabe?
(Lama Ole lacht) Das ist natürlich nur eine Redeweise, denn von dem Moment, an dem man mit dem Pruüfen anfängt, lernt man auch schon, nicht wahr? Es ist also keine so bedeutende Aussage, aber eine nützliche Erinnerung für die Schüler, dass sie den Lehrer gut prüfen und ihr kritisches Gespür nicht verlieren sollten. Der Lehrer hat die Erfahrung und es ist seine Aufgabe und seine Verantwortung zu schauen, ob sein Angebot für den Schüler passt.
Ob er also anderswo besser aufgehoben wäre und bei ihm nicht weiterkommt, oder ob er wie ein geborener Fallschirmspringer in unseren Gruppen erscheint und zutiefst zuhause in dem strahlenden Raum ist, den wir anbieten. Wenn Menschen auftauchen und alles wollen und das sofort, dann muss ich sie zwar beruhigen, um Enttäuschungen vorzubeugen, aber ich bin froh über sie. Grundlegend sind sie Familie.
Bei unseren ersten Begegnungen mit den Erfahrungsreligionen des Fernen Ostens in den 60er Jahren schauten Hannah und ich vor allem auf die großen Männer, die sie vertraten. Das waren zuerst einige Hindus und dann die verwirklichten tibetischen Lamas, die wir trafen. Sie zeigten uns überzeugend, was möglich ist. Heute ist das anders. Nach 40 Jahren auf dem Weg und mit riesiger Verantwortung für den westlichen Diamantweg-Buddhismus, schaue ich zuerst auf das Kraftfeld, das andere Lehrer umgibt, auf die Gruppen, die sie machen: Wie verhalten sie sich? Welche Art von Leuten geht dorthin? Würde ich mit ihnen Pferde stehlen? Reden sie hinter dem Rücken und über einander statt miteinander? Sehen die Männer wie Männer und die Frauen wie Frauen aus? Schaffen sie es ohne eine Menge Tabus und all so ein Zeug?
Ich selbst würde keine Belehrungen über den Geist von jemandem annehmen, der unfroh wirkt oder langweilige Schüler hat. Wenn aber das Gefühl leicht ist, ein gesunder Austausch zwischen den Geschlechtern stattfindet, es einen robusten Sinn für Humor und kein Getuschel in den Ecken gibt, würde ich diese Gruppe als wertvoll und für viele sinnvoll erachten. Offensichtlich finden die  Menschen dort die Offenheit, die man braucht, um dem eigenen Leben Auftrieb zu geben und die Jahre in diesem Körper reich und wunderbar zu machen. Ich beurteile den Baum also heutzutage nach seinen Früchten, denn tatsächlich erfahren wir das Verwirklichungsfeld vom Lama – oder des Gurus – nicht in einem himmlischen Lächeln, sondern in den Schülern um ihn oder sie herum. Ihre Furchtlosigkeit, Freude und unmittelbares Mitgefühl macht die Menschen frei, während ein Gefühl von unreifer Nachahmung und Unterwerfung in einer Gruppe für denkfähige Leute zutiefst peinlich ist. Der Lehrer strahlt die Eigenschaften seiner Übertragung dort aus und gibt weiter, was er von seinen eigenen Lehrern gelernt hat. Man lernt also viel über den Lehrer durch seine Zentren und Schüler.
Selbst heute, 50 Jahre später im Westen, sind die Kobolde, die bei der Flucht über die Himalayas reisten, geblieben und man findet noch immer die gleichen Menschentypen als Vertreter der vier buddhistischen Linien wie früher in Tibet.

In Anbetracht dessen, dass in der Vergangenheit so viel passiert ist: Warum hat der 16. Karmapa für uns die Guru-Yoga-Übung so betont?
Weil die Übung mehr auf menschliche Erfahrung denn auf Abstraktes baut und dadurch näher am Leben steht. Viele Karmapas gaben solche Mittel für ihre Schüler. Dieser Weg wird auf Sanskrit Guru-Yoga oder auf Tibetisch Lami Naljor genannt. Er war schon immer die besondere Kraft der Kagyü Linie und bleibt bis heute der Hauptpfeiler der seit 1971 entstehenden Diamantweg-Zentren im Westen. Die Meditationen auf die Übertragung und den eigenen Lehrer in Form der Karmapas helfen mehr Schülern, sich ihren innewohnenden Möglichkeiten gegenüber zu öffnen als irgendeine andere Übung.
Viele Yogis, unter ihnen auch der große 16. Karmapa und der bekannte Dilgo Khyentse Rinpoche, loben das Guru-Yoga als einen selbstständigen und höchst wirksamen Weg. Wählt man diesen Weg der Einswerdung, verschmilzt man am Ende seines Lebens mit dem bewussten Raum des Lehrers.
Guru Yoga taugt aber nicht für jeden. Es gibt Menschen, die eher für letztendliche Prinzipien offen sind als für ganzheitliche, menschliche Vollkommenheit. So wie man sich mit einem Farbenblinden nicht über einen Regenbogen unterhalten würde, begeistert auch das buddhistische Yogi-Ideal nicht jeden. Die höchste Einsichtsebene, auf der die meisten gefühls- wie wissensbedingten Schleier weggefallen sind und man auch die Sexualität als "rein" erfährt, schaffen nicht viele. Wenn man aber merkt, dass sich bestimmte Schüler durch das Überschreiten ihrer Gewohnheitsgrenzen rund entwickeln, ist die Meditation auf den Lehrer ein sehr schneller Weg.
Nichts verändert den eigenen Charakter stärker als das Einswerden mit einem Ziel und nichts arbeitet tiefer in einem, als die volle menschliche Verbindung zu einem Lehrer, der in einem uferlosen Geisteszustand verweilt.
Das Problem mit der Hingabe liegt oft nicht so sehr auf Seiten des Schülers – es gibt vor allem in angenehmen Ländern, die aus gutem Karma entstanden sind, viele, die diesen Reichtum besitzen oder entwickeln möchten. Für gewöhnlich ist es aber schwerer für die nicht monastischen Lehrer, die ohne Roben und durch wenig äußere Versprechen geschützt in vollem Austausch mit dem Leben stehen, den Stil zu wahren und in jeder Tat vorbildhaft zu sein. Das zurückgezogene Leben eines Mönches ist hierfür tatsächlich ein großer Schutz vor ständiger Beobachtung.
Aber zunächst zur Lage des Schülers: Es gibt bestimmte Dinge, die er schnell beim Lehrer überprüfen sollte, um zu sehen, was und auf welcher Ebene er sich entwickeln will – und kann. Möchte er Nutzen von einer Zeit des Lernens auf der begriffsmäßigen Ebene des Großen Weges (skt. Mahayana) haben oder sollte er oder sie es mit einer tiefen Öffnung und vollem Austausch versuchen, indem man einen der wenigen Diamantweg-Lehrer sucht und in seine Welt eintaucht? Ergibt sich die Gelegenheit für Letzteres, ist es immer wesentlich, die folgenden drei Punkte beim Lehrer zu prüfen: Ist er furchtlos? Ist er von sich aus freudvoll? Und ist er auch in der Tat mitfühlend? Arbeitet er also hart für andere?
Diese drei Eigenschaften beweisen grundlegend seine Verwirklichung. Jeder, der erkennt, was zwischen den Gedanken liegt, hinter ihnen verweilt und die Gedanken kennt: Wer also den Spiegel hinter den Bildern und das Meer unter den Wellen erfährt, wird furchtlos. Dadurch erwacht die Einsicht, dass Raum seinem Wesen nach unzerstörbar ist und durch nichts geschädigt werden kann.
Die Furchtlosigkeit ist die tiefste befreiende und erleuchtende Eigenschaft, die Buddha und der ihn vertretende Lehrer mit allen teilen sollte. Die zweitbeste Wahl für den Schüler, wenn diese Furchtlosigkeit fehlt, wäre, dass man an der Schatzkammer der begriffsmäßigen Unterweisungen des Lehrers teilhat.
Auf Diamantweg-Ebene sind die unerschütterliche Furchtlosigkeit und das Vertrauen, die ich bei vielen meiner heute leider verstorbenen Meditationslehrer aus Tibet und Bhutan seit 1968 erlebt habe und die heutzutage von meinen westlichen Schülern erkannt werden, das Ergebnis ihrer Übungen und Erinnerungen aus diesem oder früheren Leben. Furchtlosigkeit drückt das Wesentliche am Wesen des Geistes aus, die Erkenntnis seines Wahrheitszustandes.
Aus der Sicherheit heraus, dass der Geist Raum und daher unzerstörbar, immer und überall ist, wird aufgrund seines Reichtums und seiner unendlichen Möglichkeiten seine innewohnende freie Freude erwachen. Wir werden dann noch dazu nett, haben Überschuss, denn aus dieser Sicht ist es offensichtlich, dass alle Wesen mehr oder weniger begabt einfach Glück suchen.
Und da die anderen so viele sind und wir nur einer, wird es viel sinnvoller, etwas für sie zu tun, als nur für einen selbst. Diese letztendlichen Eigenschaften (Furchtlosigkeit, Freude und tatkräftiges Mitgefühl), fußend auf Furchtlosigkeit, sind Buddhas Ziel für alle Wesen und man sollte anderen helfen zu entdecken, dass etwas so Schönes auch ihr zeitloses Wesen ist.

Aber zurück zu eurer Frage zu den Eigenschaften des Lehrers, den man für sich wählt. In der heutigen Welt wäre ich überaus vorsichtig mit Lehrern, die verantwortungslos und feige keinen kritischen Blick auf Religionen haben. Wer das geistige Leben vertritt, hat heutzutage die unumgängliche Pflicht zu wissen und zu vermitteln, was rund um die Welt vor sich geht. Sie müssen den Mut haben, andere darauf aufmerksam zu machen, wenn andere – wie die eigene – Religion gegen unsere humanistischen Verfassungen, Ideale und Freiheiten verstoßen. Sonst führen sie ihre Anhänger aus eigener Angst in die Irre. Ich weiß, dass das vielen in den Ohren weh tut, aber wer auch immer heutzutage das Wasser mit Seichtheiten wie "alle Religionen sind gleich" trübt, bringt demokratische Gesellschaften in große Gefahren und die Auswirkungen davon nehmen ständig zu. Während unsere Bürger mit Lebenserfahrung sich den Kopf halten, lassen es heutige europäische Politiker zu, dass über zweitausend Jahre erkämpfte Freiheiten unserer westlichen Gesellschaften durch den ständigen Druck einer mittelalterlichen, fanatischen Religion mit dem erklärten Ziel der Weltherrschaft zusammengestutzt werden.

Warum können Buddhisten diesen Verfall so gut aufzeigen? Weil wir nicht in die Absolutheiten von entweder/oder und gut/böse verfallen. Unsere Lehre sagt, dass Böses aus grundlegender Unwissenheit entsteht, welche entfernt werden kann und dass letztendlich alle Wesen die Buddha-Natur haben, weil der Geist eines jeden Klares Licht ist. Deswegen sollten wir kritisch, aber auch bestimmt sein. Einige Verhaltensweisen vermehren auf unserem Weg die Entwicklung von Mitgefühl und Weisheit und bringen die letztendliche Erkenntnis, dass Raum gleich Freude ist, wohingegen andere Handlungen allen menschlichen Werten völlig entgegengesetzt sind und diese zerstören. So können wir mitfühlend und ohne starke Störgefühle kritisch sein, weil wir wissen, dass alle Wesen eine ihnen innewohnende Vollkommenheit besitzen, die mit den richtigen Mitteln erkannt werden kann. Gutmenschen schauen lieber weg, aber es ist nötig, dass wir Abschiebeverfahren und Gefängnisse für diejenigen haben, die wegen Gehorsam an ihre Religion – "Islam" bedeutet wörtlich Unterwerfung – anderen bewusst und aus Überzeugung schaden.

Entsteht Hingabe als ein starkes Gefühl oder verändert sie sich im Laufe der Zeit?
Obwohl Hingabe auf der Erkenntnis der eigenen, unveränderlichen Buddha-Natur beruht, wächst ihre Verwirklichung stufenweise. Es gibt eine strebende Hingabe, eine freudvolle Hingabe und eine unveränderliche Hingabe. Die letztere ist dann erreicht, erklären die althergekommenen Quellen, wenn das Vertrauen nicht zunimmt, wenn man den Lama in der Luft fliegen sieht und auch nicht abnimmt, wenn Unverständliches abläuft. Man denkt dann einfach "Er weiß schon, was er tut", darf aber dabei gern gute Wünsche machen, dass auch andere das so sehen.

Wie arbeitet man mit Hingabe in der Meditation?
Hingabe wächst durch den Einsatz, den man auf den Roulette-Tisch setzt. Er bestimmt, wie viel man gewinnen kann. Ist der Einsatz eine Meditation zum Beruhigen und Halten des Geistes, kann man das mit einem 20-Euro-Einsatz seiner geistigen Möglichkeiten vergleichen. Gewinnt man, bekommt man vielleicht 200 Euro, was schön, aber nicht besonders viel ist. Setzt man noch dazu Mitgefühl und Weisheit, also den Wunsch für das Glück aller Wesen und eine wachsende Bewusstheit für die traumgleiche Natur der Wirklichkeit ein – vielleicht vergleichbar mit 200-Euro auf dem Tisch – wird eine weitere Ebene des Gewahrseins erreicht und ein Gewinn von vielleicht 2000 Euro. Gibt man aber mit voller Offenheit für die Schwingung von Weisheit und Wärme, die der Lehrer und seine Linie ausstrahlen alles; meditiert man also so, dass man den ganzen Segen aufnimmt und zu dem erleuchteten Kraftfeld, das hier erzeugt wird steht, wird einem der Schlüssel für das ganze Kasino in die Hand gelegt. Keiner könnte das bezahlen.
So wirkt das: Wenn wir unsere äußeren, inneren und geheimen Fähigkeiten öffnen können - Tat, Einstellung und Sicht – dann gehört uns bald alles.

Wie zeigt sich Hingabe in deinem Geist?
Sie zeigt sich am stärksten als Dankbarkeit und wenn ich sehe, dass unsere Arbeit so vielen tollen Menschen nutzt. Ich denke dann an unsere Linie und den großen 16. Karmapa: "Wow, danke dafür, dass ihr mich in diese Lage gebracht habt!"
Hingabe ist einerseits wie ein Bankkonto, das sich auf unterbewussten Ebenen ständig auffüllt und Kraft gewinnt, und es zeigt sie aber in Augenblicken des Entscheidens und des bewussten Handelns. Wenn ich zum Beispiel einen Vortrag halte und ich sehe in den Augen der Leute, wie in ihnen aufgeht "Mensch, mein Geist ist kein Ding, er kann nicht sterben" oder wenn es plötzlich in ihnen klickt "Warum strebe ich nach all diesen äußeren Dingen, wenn es doch nur mein Geist ist, der froh werden kann? Vielleicht sollte ich dort nach Glück suchen, wo es ist". Wenn solche Erkenntnisse ihre Augen weiten, denke ich: "Wow! Danke, Karmapa! Danke, Lopön Tsechu Rinpoche, Kalu Rinpoche und wer auch alles von unseren Lehrern diese Arbeit mit Hannah und mir gemacht hat." Ihre Übertragung nutzte in dem Augenblick denjenigen, die dafür offen waren.

Hast du das Gefühl, dass sich in dem Moment der Segen der Linie ausdrückt?
Ja, und es ist völlig unpersönlich. Die Freude berührt einen, aber der Augenblick des Teilens ist jenseits aller Vorstellungen. Er ist nur Offenheit, Sinn und Wonne.

In einigen Guru-Yoga-Texten macht man Wünsche, jede Erscheinung als den Körper des Lamas, jedes Geräusch als seine Rede und alle Freude als seinen Geist zu erleben. Wie hängt das mit der Reinen Sicht zusammen?
Für einen modernen kritischen Zuhörer ist das wohl weniger durchsichtig. Es bedeutet, dass man die ganze Zeit untrennbar von der Zuflucht ist, was einem ermöglicht, die höchste Sichtweise zu erleben und auf allen Ebenen weiterzuführen.
Jegliche Erscheinung drückt hier die Wahrheitsnatur aus, einfach weil sie aus dem Raum entsteht und geschehen kann. Jedes Geräusch trägt den Segen von Buddhas Rede bzw. der Rede des Lehrers und ist deswegen ein Mantra – ein Schutzlaut – voll von Sinn. Jeder Gedanke und jedes Gefühl zeigen den Reichtum von Buddhas Geist, vom Geist des Lehrers und der Übertragung und sind deswegen zeitlos vollkommen.
So wird jede Erfahrung befreiend und erleuchtend. In dieser Weise würde ich das sehen. Auf dem Diamantweg erleben wir all diese Dinge als Segen der Buddhas.

Wie hilft einem dieses Verständnis, die Leerheit und die Raum-Natur des Geistes zu erkennen?
Aus einer Lage, in der der Geist voller guter Eindrücke ist, können die Wesen sich begeistern und sich öffnen. Das ist viel schwieriger, wenn man von schlechten Eindrücken gestört ist. Störende Gefühle ziehen zwar auch vorbei, können nicht verweilen und lösen sich nach einiger Zeit wieder im Raum auf. Trotzdem genießt man sie nicht, wenn man sie erlebt. In solchen Lagen verbringen einige Menschen viel Zeit, beim sprechen mit ernst aussehenden Leuten in weißen Kitteln die ihnen raten, täglich einen Haufen Pillen zu schlucken.
Gute Dinge denken und sagen ist ebenso nur ein Traum, etwas Bedingtes und eine sich verändernde Vorstellung. Wer aber den Geist immer weiter mit guten Eindrücken auffüllt, kommt an einen Punkt, an dem außen und innen so viel Schönheit erlebt wird, dass der Geist sich traut, jenseits seiner Begriffe zu gehen. Hier wird das vollkommene Bewusstsein erfahren, das sich seiner gewahr ist. Wenn sein Wesen sich erkennt und dessen Gewahrsein durchdringt, gibt es nichts weiter, was man sich wünschen könnte.
Dies entfernt erst nach langer Zeit die Vorstellung eines von der Ganzheit getrennten Egos. Wenn es kann, wird es auftauchen und denken: "Mein Klares Licht war länger als seines letzte Woche" oder "Jetzt werde ich schnell Erleuchtung erlangen". In solchen Augenblicken ist aber nichts verloren: Die Sonne scheint immer, es zogen nur ein paar Wolken vorbei. Bewusstheit ist zeitlos wie der Raum, und vergängliche Fehlvorstellungen, die hindurch ziehen, können sogar als sein freies Spiel gesehen werden. Wenn man aufhört, sich um das zu kümmern, was sowieso kommt und geht, erkennt man den freien Raum des Geistes und verlässt diesen vollkommenen Zustand nicht mehr.

Können Hingabe und eine kritische Sicht miteinander in Konflikt geraten?
Bitte nicht. Das wäre Zeitverschwendung. Man muss sich aber kultureller Unterschiede bewusst sein und dann wählen, was sinnvoll für andere und für eine selbst wichtig ist. Selbst bei dem großartig verwirklichten 16. Karmapa, dessen Segen Hannah und mich oft wie ein Stromschlag berührte, den wir als alle Buddhas in einem erlebten und der sich vor meinen Augen während Kraftübertragungen in die männlichen und weiblichen Buddhas veränderte, in die er uns einweihte, verließ mich die Erziehung meiner Mutter nicht. Wenn Leute mit den Händen ins Essen greifen, wie die Tibeter bei ihrem Tsampa, schaue ich noch heute weg.
Auch wenn ihn jemand mitnahm, um ihm stundenlang ein paar schöne Schuhe zu kaufen, war ich selten dabei oder las aus der Nähe meine International Herald Tribune. Obwohl er es mitmachte, um seine Sponsoren zu ehren und bestimmt Verbindungen für künftige Leben knüpfte, fand ich es eine völlige Verschwendung seiner wertvollen Zeit. Schuhe müssen halt passen und haltbar sein, das war meine Sicht.
Es gab aber häufig weltliche Umstände als alles unter Starkstrom stand, wie zum Beispiel wenn Karmapa in ein Vogel-Geschäft ging. Eigentlich mag ich Vögel nicht besonders. Ich mag ihren Geruch nicht und da ich sehr sinnlich bin, fasse ich Dinge immer an. Wenn ich das nicht tun kann, werden die Dinge für mich nicht richtig lebendig. Obwohl einige Vogelarten anscheinend so begabt wie Affen und noch dazu mitfühlend sind, kann man ihnen in der Weise nicht wirklich nahekommen. Karmapa betrat diese Vogel-Läden, die er durch Eingebung in Städten ortete, in denen er nie zuvor war, stand dort kurz vor den Käfigen und sagte dann, dass dieser Vogel dort etwas sehr Sinnvolles sagte und dass der nebenan recht nutzlos sei. Dann hielt er einfach seine Hand in den Käfig und der von ihm gepriesene Vogel setzte sich darauf. Karmapa nahm ihn heraus, blies ihn an und machte Geräusche mit ihm und oft schenkten ihm die verdutzten Ladenbesitzer den Vogel oder nahmen nur einen geringen Preis. Karmapa tat das sehr oft und wenn die Vögel später starben, blieben sie steif und unbeweglich stehen, mit ihren Schnäbeln aufgerichtet. Karmapa sagte dann: "Er meditiert jetzt. Heute Abend wird er frei sein, dann könnt ihr ihn begraben."

In wie vielen Vogelgeschäften warst du mit dem 16. Karmapa?
In den Jahren 1974 und 1977 in Europa ungefähr zehn, Hannah sogar öfter und dazu manchmal bei Exoten-Sammlern, die zeigen, aber nicht verkaufen wollten. Einmal fuhren wir Karmapa zu einem ganz frühen Zentrum in Schottland und als er sein Zimmer betrat, klopften drei Vögel mit ihren Schnäbeln an die Scheibe einer Glastüre. Wir spürten, dass hier etwas Besonderes vor sich ging und ließen ihn allein. Kurz danach kam Karmapa heraus. Er hatte eine grobe Skizze von der Umgebung mit der Lage einer Scheune gezeichnet und sagte, dass dort drei Vögel unter einem Dach eingesperrt wären. An dieser Scheune waren wir vorher nicht vorbeigefahren. Karmapa war auf dem Flughafen Prestwick gelandet, aus der entgegengesetzten Richtung. Die Zentrumsleute kannten die Scheune, die seit Jahren keiner benutzte, gingen hinein und öffneten ein Oberlicht. Sofort flogen drei große Vögel hinaus!
Solche Beispiele gab es dutzendweise und wer auch immer den 16. Karmapa traf, ist sich sicher, dass er ein Buddha war, einfach allwissend. Der nicht-politische, religiöse 17. Karmapa Trinle Thaye Dorje, der sich selbst erkannt hat und von Shamar Rinpoche, dem nächsthöheren Lama unserer Linie bestätigt wird, sagt, wenn er in dem Alter sei, in dem Hannah und ich Schüler des 16. Karmapa waren – also 46 bis 58 Jahre – erwarte er, ähnliche Fähigkeiten zu haben.
Als ich das hörte, war ich voller Freude, denn es kann kein größeres Geschenk an die Welt geben. Solche Kräfte sind befreiend. Sie beweisen jenseits aller Zweifel, dass die Welt ein gemeinsamer Traum ist, der durch die gefärbten Gläser unserer derzeitigen Geisteszustände gesehen wird. Sehr viele werden großen Nutzen davon haben, das zu erleben. Es befreit!

Wie würdest du als Lehrer gerne deine Schüler ihre Hingabe zu dir ausdrücken sehen?
In dem sie dem Raum und ihren eigenen Möglichkeiten vertrauen. Das heißt: Durch harte Arbeit, Mut, Spannung, Furchtlosigkeit, Freude und humorvollen Überschuss. Eine grundlegende Offenheit, Vertrauen in sich selbst und andere ist nötig – und dass meine Schüler, wo auch immer sie erscheinen, den geistigen Austausch anheben. Es geschieht schon jetzt und von selbst. In Kopenhagen zum Beispiel kenne ich ein paar erfolgreiche männliche Models. Sie sehen wie nordische Götter aus, mit scharf geschnittenen Gesichtern und vollkommenen Körpermaßen. Als ich noch die Zeit hatte, ihre Partys zu besuchen, saßen sie dort für gewöhnlich zurückgelehnt, einfach nur mega-cool und passten auf, dass ihnen das teure weiße Pulver nicht aus den Nasen fiel. Dann kamen ein paar unserer buddhistischen Mädchen rein, rüttelten alles auf und fingen eine unserer Kagyü-Feste an. Bevor sie kamen, war eigentlich alles schon da – die Musik, die schönen Körper und alles – aber es fehlte der Funke, um es werden zu lassen.
Stimmung gibt es eigentlich immer bei uns. Deswegen vermuten ein paar stille Typen, wir wären keine guten Buddhisten. Sie benutzen unseren Insider-Witz, uns die "Party-Linie" zu nennen, weil es ähnlich klingt wie Kagyü-Linie. Aber wisst ihr, jede Religion, die ihren Zugang zu Körper und befreienden Erfahrungen verliert, wird ein Grabmal. Um miteinander zu arbeiten und sich gegenseitig kennen zu lernen, ist ein gutes Fest zu teilen höchst nützlich – aber kein Rave, was Beat, Ohren und Musik zugleich zerstört. Eine Nacht durchzutanzen, wie oft in slawischen Ländern, ist eine vereinende und wundervolle Sache; Gesundheit, Schönheit, Kraft und Liebe von so vielen feinen Menschen in den Raum zu verschenken. Ihre Bewegungen, die Lichter und all den Reichtum, den man da erlebt, sind eine große Gabe an die Buddhas. Unsere letztendliche Diamantweg-Belehrung ist, dass höchste Freude höchste Wahrheit ist. Wenn jemand wie nach drei Wochen Regenwetter in die Welt guckt, andere moralisiert und dabei behauptet, irgendwelche besonderen Verwirklichungen oder Einsichten zu haben, kann man ruhig sagen: "Das Beispiel kann ich nicht verwenden." (Lama Ole lacht)
Unsere Erfahrungen von "Aha", von hier im Jetzt sein, von Frische und Wert sind genau, wo man hin will. Schnelle Motorradfahrten, gelegentliche Fallschirm- oder Bungee-Sprünge und andere spannende Situationen können dabei hilfreiche Spiegel für unseren Geist werden. Jedem wohnen unglaubliche Möglichkeiten inne.
Je mehr von unserem innewohnenden Reichtum ein Lehrer hervorholen kann, umso mehr Hingabe und Dankbarkeit sollten wir für ihn oder sie haben.

Gibt es noch etwas, das du zu dem Thema Hingabe sagen möchtest?
Fangt mit der Dankbarkeit an, danach findet und entwickelt sie!

Das Interview wurde von Jonathan Bradley im November 2009 in den USA geführt.


Lama Ole Nydahl
ist ein buddhistischer Lehrer mit zehntausenden Schülern in aller Welt. Während der Hochzeitsreise mit seiner Frau Hannah begegneten sie 1968 dem 16. Gyalwa Karmapa, dem Oberhaupt der Karma-Kagyü-Schule des tibetischen Buddhismus. Der 16. Karmapa beauftragte die beiden, im Westen den Diamantweg-Buddhismus zu lehren und buddhistische Zentren zu gründen. Seitdem ist er ständig weltweit unterwegs , um Vorträge zu halten, Meditationskurse zu leiten und buddhistische Zentren zu betreuen.
Mittlerweile hat Lama Ole Nydahl mehr als 600 Meditations- und Studienzentren der Karma-Kagyü-Linie gegründet und ist damit der wohl bekannteste westliche buddhistische Lehrer. Mehr als 150 Zentren und Gruppen befinden sich im deutschsprachigen Raum, womit die Karma-Kagyü-Linie eine der populärsten buddhistischen Traditionen im Westen geworden ist.