HOME 0 ARCHIV 0 BUDDHISMUS ABO NACHBESTELLUNG IMPRESSUM KONTAKT
BUDDHISMUS HEUTE
Aus: Buddhismus Heute Nr. 50, (Herbst 2011)

Das Verlassen der Komfortzone

Pilgerreise zum Berg Kailash - Von Artur Baussmerth

Der Samen für diese Reise wurde auf einer Pilgerfahrt mit Manfred Seegers und Hans Embert gesetzt, als sich uns in Kalimpong der 8.586 Meter hohe Kangchenjunga zeigte. "Warum nicht mal zum Kailash als nächstes Ziel?"

Die Reise wurde für 2008 geplant, aber im Jahr der Olympiade in Peking, die von zahlreichen Unruhen in Tibet gekennzeichnet war, beantwortete der 17. Gyalwa Karmapa Thaye Dorje die Frage von Hans Embert1 dazu mit: "Don‘t go!" Im Jahr darauf war seine Antwort schon: "Be careful at the border...". Erst nachdem Karmapa uns 2010 sein OK gab, flogen 19 Schüler von Lama Ole Nydahl im September 2010 über Indien und Nepal in Richtung Kailash.

New Delhi
Am 17. September 2010 empfing uns Gyalwa Karmapa im KIBI in New Delhi. Nach seinem Segen sprach er über Pilgerreisen und betonte, dass der Kailash zusammen mit Buddhas Erleuchtungsort Bodhgaya und Tso Pema, einer Stelle von Guru Rinpoche in Nordindien, zu den drei heiligen Plätzen gehöre, die jeder Praktizierende besuchen sollte. Er sagte uns, dass alle Wünsche, die wir während der "Kora" - der rituellen Umschreitung - machen würden, in Erfüllung gehen werden. Wir sollten dabei aber alle Wesen im Geiste halten und auf unsere Erfahrungen achten.

Der Kailash sei einer der "Juwelen der Welt", da alle Buddha-Aspekte aus dem "Berg Meru", wie er auch genannt wird, entspringen. Abschließend fragte Karmapa uns, wann wir genau am Kailash sein würden und warnte uns vor den Mücken in New Delhi. Tatsächlich wurde hier eine Mitreisende gestochen und musste später mit Dengue-Fieber vorzeitig die Reise abbrechen.

Nepal
Von Delhi flogen wir über Kathmandu nach Pokhara, von wo uns eine kleine Propellermaschine nach Jomson in Lower Mustang zum Akklimatisieren bringen sollte. Zuerst kam leider nur ein Teil unserer Gruppe dahin. Wir anderen konnten nur einen Rundflug mit Blick auf den Annapurna machen, weil in Jomson schon zu schlechte Wetterbedingungen zum Landen waren. Täglich ab elf Uhr kommt hier ein so starker Wind auf, dass der Flugverkehr eingestellt werden muss.

Am nächsten Morgen konnten wir dann in Jomson landen und zusammen mit unserer Vorhut machten wir uns auf eine Jeeptour nach Kagbeni. Wir holten uns einen Segen an einer Stelle, an der Guru Rinpoche einen Dämon besiegt hatte, dessen Kopfabdruck samt Blut (angeblich) noch an den Felsen zu sehen ist. In Kagbeni besichtigten wir das Sakya-Kloster "Kag Chode Thupten Samphel Ling", von wo wir einen wunderschönen Ausblick hatten, ehe wir zu unserer ersten Bergtour aufbrachen. Hier traten schon auf 3400 Meter bei einigen erste Symptome von Höhenkrankheit auf. Zum Glück hatten wir aber gleich zwei erfahrene Ärzte dabei, die mit Schulmedizin und homöopathischen Mitteln helfen konnten.

Nach einer - für einige - harten Nacht, besichtigen wir in Jarkoth ein weiteres Sakya-Kloster und begaben uns auf einen Fußmarsch zum vorerst höchsten Punkt unserer Reise, das auf 3.775 Meter gelegene "Muktinath-Chumig Gyatsa", eine Pilgerstelle für Buddhisten und Hindus. Diese Dakini-Stelle besuchte Guru Rinpoche in Begleitung von 84 Mahasiddhas.

Am nächsten Tag kam von Jomsom wieder nur ein Teil von uns mit dem Flugzeug nach Pokhara und Kathmandu durch. Als am darauf folgenden Morgen immer noch kein Flug ging, beschlossen wir einen Hubschrauber zu mieten. Ein unvergessliches Erlebnis, mit dem kleinen Fünfsitzer knapp über den Bergspitzen zu schweben.

In Kathmandu trafen wir im Guesthouse von Lopön Tsechu Rinpoches Kloster in der Nähe des Swayambhu-Stupa unsere Vorhut wieder und am nächsten Morgen kurz vor sechs Uhr brachen wir mit zwei Kleinbussen zur tibetischen Grenze auf. Die Fahrt führte durch grüne Landschaften und Straßen, die teilweise durch starke Regenfälle der letzten Wochen unterspült worden waren. Vor der Grenze wurden wir von zahlreichen Sherpas umringt, die sich ihr Geld damit verdienen, Lasten über die Brücke nach China zu tragen. Es sind fast nur Frauen, die sich als Träger verdingen und dabei das Vielfache ihres Körpergewichts tragen. Einige aus unserer Gruppe konnten den Anblick der ausgezehrten schwer schleppenden Frauen nicht ertragen und trugen ihr Gepäck selbst. Andererseits war es für die Frauen wohl auch die einzige Möglichkeit, etwas Geld zu verdienen.

Tibet
An der Grenze hatten wir keine Schwierigkeiten, obwohl wir viele Buddha-Bilder und Segensbänder dabei hatten, die wir an die Tibeter verteilen wollten. Wir wurden aber zum Glück nicht durchsucht. Danach erwartete uns ein gigantischer Lkw-Stau, weil nach 15 Uhr nepalesischer Zeit keine Abfertigung mehr stattfindet, denn für ganz China gibt es nur eine Zeitzone: "Peking-Zeit". Unglaublich auch, dass das hier die einzige Straße ist, die Tibet mit Nepal verbindet.

Einige von uns waren gesundheitlich schon ziemlich angeschlagen und so entschlossen wir uns in Nyalam, noch eine weitere Nacht im besten Hotel der Stadt zu verbringen, bevor wir danach nur noch in Zelten schlafen würden. Wir besuchten hier eine Höhle, in der Milarepa auf seinem Weg zum Kailash drei Jahre meditiert hatte. Sie liegt inmitten einer schmucken neu gestalteten Ortschaft, die für uns so aussah, wie sich Chinesen eine tibetische Siedlung vorstellen. Es wirkt alles so, als wollte man es für den Tourismus schön machen. Im Vorraum der Höhle waren einige Handwerker und Thangka-Maler aktiv, denen wir mit unseren von Gyalwa Karmapa gesegneten Liebevolle-Augen-Karten und Segensbändern eine große Freude machten. Zu unserer Überraschung öffnete uns der einzige Mönch, der diese Stelle betreute, noch eine weitere Tür zu einer Höhle von Milarepas Schüler Rechungpa. Er bekam von mir eine meiner von Gyalwa Karmapa und Lama Ole gesegneten Doppelbilder mit dem 16. Karmapa auf der einen Seite und dem 17. Karmapa Thaye Dorje auf der anderen Seite. Schon in Jomson hatten wir diese Doppelbilder in den tibetischen Shops als Gegengewicht zu den Bildern von Urgyen Trinle hinterlassen.

Am nächsten Tag musste dann eine Mitreisende wegen einer Bronchitis, die sich später als Dengue-Fieber entpuppte, die Reise abbrechen und mit einem Hubschrauber nach Kathmandu geflogen werden. Wir anderen machten uns auf in Richtung Manasarovar- See. Nachdem wir ziemlich bald die 4.000 Meter-Marke durchbrachen, bildete der nicht weit hinter Nyalam gelegene 5.144 Meter hohe "La-Lung"-Pass den vorläufigen "Höhepunkt" unserer Reise. Nach zwei schon recht frostigen Nächten im Zelt auf über 4.500 Meter Höhe wurden wir dann richtig entschädigt: Der Kailash zeigte sich uns zum ersten Mal und das in voller Pracht bei Sonnenschein. Entsprechend groß war unsere Euphorie, zumal wir in die andere Richtung noch einen ebenfalls wunderschönen Blick auf den See "Rakshas Tal" hatten. Dieser längliche See wird von den Tibetern mit dem Mond verglichen, während der größere, eher runde Manasarovar-See für sie die Sonne darstellt. Im tibetischen Buddhismus symbolisiert der Manasarovar die "Rote Weisheit", während der Kailash den Sitz von "Höchster Freude" darstellt. Das Wort Kailash kommt ursprünglich aus dem Sanskrit und bedeutet "Kristall". Sein tibetischer Name ist Gang Rinpoche ("Das kostbare Schneejuwel") oder Kangri Rinpoche ("Der kostbare Schneeberg"), und für die tibetischen Buddhisten bedeutet er den Ursprung des Universums.

Am Manasarovar-See
Am Nachmittag erreichten wir den auf 4.608 Meter Höhe liegenden Manasarovar-See. Hier wollten wir uns noch einen zusätzlichen Regenerations-Tag gönnen. Uns zog es auch gleich in ein Badehaus, wo wir in mit Plastikfolie ausgelegten Holzzubern, die aus dem Wasser der am See liegenden heißen Quellen gespeist wurden, ein belebendes Bad genossen.
Nach einer für die meisten von uns relativ guten Nacht, machten einige auf einer kleinen Anhöhe, mit Blick auf Manasarovar-See und Berg Kailash, eine 8. Karmapa-Meditation. Ein unvergessliches Erlebnis: Wann hat man schon einmal die Gelegenheit, mit Blick auf "Rote Weisheit" und "Höchste Freude" zu meditieren?

Von der "Chiu Gompa", einem Nyingma-Kloster auf einem Berg über einer Höhle, in der Guru Rinpoche sechs Tage verweilte, war der Ausblick auf Kailash und Manasarovar-See wieder unvergleichlich. Etwas unterhalb des Klosters standen einige Stupas, wie in Tibet üblich, umgeben von Feldern mit Mani-Steinen und Yak-Schädeln, auf denen das Mantra von Liebevolle Augen zwischen die Hörner geschnitzt worden war, was uns zum ausgiebigen Fotografieren einlud.

Am Kailash
Am nächsten Morgen brachen wir ins 4.683 Meter hoch gelegene unschöne Darchen auf, von wo wir noch am gleichen Tag bei strahlendem Sonnenschein unsere Kora um den Kailash begannen. Wir trafen ständig auf tibetische Pilger, die uns überholten, nachdem wir uns gegenseitig bestaunt hatten. Sie waren genauso neugierig auf uns wie wir auf sie, außerdem hofften sie, nicht unbegründet, auf Geschenke von uns. Wir hatten zahlreiche gesegnete Meditationsbilder und Segensbändchen mit. Ich fand es auch nicht schlimm, dass sie gefühlt viermal so schnell wie wir unterwegs waren und sich immer nur kurz bei uns aufhielten, denn ihr penetranter Lagerfeuergeruch raubte einem den Atem. Hans meinte, es sei gut, dass der Rauch die anderen Gerüche überdecken würde...

Der Höhepunkt des ersten Tages unserer Kora war das über dem "Tarboche" gelegene "Hochplateau der Mahasiddhas". Es war übersät mit Kleidungsstücken, Messern, Beilen und gut erkennbaren menschlichen Oberschenkel-, Wirbel- und Schädelknochen. Nachmittags erreichten wir unser erstes Nachtlager am Kailash. Bis hier konnte unser Lkw noch fahren, aber ab jetzt sollten unsere Sachen nur noch von Yaks und unseren Köchen und Guides getragen werden. Wir hatten zwar noch unser Essenszelt, aber keinen Tisch und keine Stühle mehr - und das bei Frostgraden. Wir verkrochen uns bald in unsere Zelte.

Am zweiten Tag gab es mittags eine unerwartete Zwischenmahlzeit. Plötzlich standen zwei große Zelte am Weg und es wurde eine heiße Suppe angeboten. Bei den meisten von uns führte sie später leider zu einem flotten Stuhlgang, weil sie mit nicht desinfiziertem Wasser zubereitet worden war. Auf dieser Höhe liegt der Siedepunkt weit unter 100 Grad, nicht ausreichend zum Abkochen. Unsere Köche hatten wir instruiert, das Wasser für unsere Mahlzeiten vorzubehandeln, auch wenn dadurch alles sehr nach Chlor schmeckte.

Das Ziel des zweiten Kora-Tages war die auf über 5.000 Meter Höhe gelegene "Drira Phuk", genannt nach einer dem Kagyü-Lama Gyalwa Götsangpa als weibliches Yak erschienenen Dakini, die ihn hier im 13. Jahrhundert in eine Höhle als Schutz vor dem plötzlich eintretenden Eisregen führte. Dies ist auch die Stelle, wo man bei der äußeren Kora dem Kailash am nächsten ist. Von unserem Lager hatten wir einen wunderbaren Blick auf die Nordwand des Kailash und den davor liegenden Bergen, die den drei großen Bodhisattvas Manjushri, Avalokiteshvara und Vajrapani zugeordnet werden.

Der dritte Kora-Tag begann nach der bisher frostigsten Nacht mit einem heißen Tee um sechs Uhr in völliger Dunkelheit. Vielleicht war es gut, dass wir noch müde waren und noch nicht sehen konnten, was uns an diesem Tag erwartete: Eine Tour von 25 km. Das Gehen selbst empfand ich jedoch als nicht so schlimm wie befürchtet.
Man kam zwar nicht schnell voran und der Körper wurde immer kraftloser, aber irgendwie ging es doch immer weiter und mit der dünnen Luft kam ich erstaunlicherweise auch ganz gut klar.

Das erste Highlight des dritten Tages war "Shiva Tsal", die Stelle an der man sein Ego abgibt, indem hier ein persönlicher Gegenstand abgelegt wird. Am "Dölma La", der den Sitz der "Grünen Tara" symbolisiert und mit 5.653 Meter den höchsten Punkt der Kora darstellt, wird man dann "wiedergeboren" - und das im wahrsten Sinne des Wortes: Wir hatten es geschafft und wurden durch einen wahrlich atemberaubender Anblick belohnt. Der ganze Platz war mit tausenden von Gebetsfahnen überzogen, die in der Sonne wunderschön in den fünf Buddhafarben leuchteten. überall glückliche Gesichter von Tibetern und Westlern, dazwischen Hunde, Pferde und Yaks.

Unsere Gruppe war nicht mehr vollzählig. Nach dem ersten Tag unserer Kora musste eine Mitreisende nach einem Fieberanfall zurück ins Hotel nach Darchen gefahren werden. Nach dem zweiten Kora-Tag kehrte eine weitere, von Fieber geschwächt, um. Eine weise Entscheidung, wie sich später heraus stellen sollte, denn beim Anstieg zum "Dölma La" stürzte ein Mitreisender zweimal, weil er ohnmächtig geworden war. Zum Glück trug er außer ein paar Schürfwunden an Gesicht und Beinen keine Schäden davon und behielt auch seinen Humor.

Hinter dem "Dölma La" begann gleich der Abstieg ins östliche Tal von Buddha Akshobya. Uns bot sich auch hier ein wunderschöner Blick auf "Tukje Chenpo Tso", der in einem klaren Smaragdgrün schimmerte und auch die "Grüne Tara" symbolisiert. Nach einem beschwerlichen Abstieg über Geröllfelder trafen wir Westler uns in einem Verpflegungszelt wieder, in dem wir mit heißem Tee versorgt wurden, während die Tibeter es vorzogen, draußen in der Kälte zu sitzen. Von hier aus sollte es dann nur noch eine Stunde bis zu unserem letzten Lagerplatz am Kailash sein, was sich aber als Irrtum herausstellen sollte. Ich hoffte ständig, dass wir es bald geschafft hätten und hinter der nächsten Bodenerhebung unsere Zelte auftauchen würden, diese Hoffnung wurde aber zunächst immer wieder enttäuscht, bis uns doch noch drei Guides mit unserem Pferd und einer Thermoskanne mit heißem Tee entgegen kamen. Angeblich waren ihnen die Yaks durchgegangen, so dass sie unser Lager erst etliche Kilometer hinter dem geplanten Lagerplatz aufbauen konnten. Die Nacht war wieder sehr kalt, aber nach den Anstrengungen des Tages fielen wir augenblicklich in einen tiefen Schlaf.

Der letzte Tag begann mit einem leichten Aufstieg zur "Zutul Puk" – der "Wunder-Höhle" von Milarepa an der Nordostseite des Kailash, die dem davorliegenden Kloster den Namen gegeben hatte. Es heißt, dass Milarepa und der Bönpo Naro Bönchung hier beschlossen, gemeinsam einen Regenschutz zu bauen. Milarepa stellte schon ein Dach auf, ohne auf Naro zu warten, der die Wände machen sollte. Als Milarepa dann das Dach zu hoch fand, drückte er es von außen mit seinem Fuß nach unten. Als er aber wieder drinnen war, fand er das Dach doch zu niedrig und hob es mit Hand und Kopf wieder etwas an. Seine Hand-, Fuß- und Kopfabdrücke sieht man dort heute immer noch.

Später besiegte Milarepa Naro Bönchung bei einem Wettrennen zum Kailash-Gipfel. Auf einem Sonnenstrahl sitzend überholte Milarepa den auf einer Trommel reitenden Naro Bönchung, worauf dieser so erschrak, dass er seine Trommel fallen ließ und diese eine an der Südseite des Kailash sichtbare Kerbe in den Berg schlug. Zu den Quernarben an der Nordwand des Kailash gibt es auch eine Geschichte. Hier sollen Dämonen Seile angesetzt haben, um den Berg nach Sri Lanka zu ziehen. Buddha verhinderte dies jedoch, weshalb noch einige Fußabdrücke von ihm zu sehen sein sollen.

Auf den letzten Kilometern unserer Kora tauten die Guides etwas auf, vielleicht weil sie sahen, dass diese Reise auch für uns eine tiefere Bedeutung hatte. Einer erzählte aus seinem Leben und dass die Tibeter immer noch ein sehr freiheitsliebendes Volk seien. Bei ihrem Aufstand 2008 ging es unter anderem auch nur darum, dass sie ihre Tradition ohne Unterdrückung leben wollten und deshalb nicht in die für sie vorgesehenen Hochhäuser ziehen, sondern in ihren einfachen einstöckigen Häusern wohnen bleiben wollten. Er erzählte, dass nach dem Bau der Peking-Lhasa Bahnstrecke die Lebenskosten so gestiegen seien, dass man sich kaum noch etwas leisten konnte. Die neu erbaute Straße zum Kailash wurde hauptsächlich für den Transport der Bodenschätze gebaut. Die zahlreichen parallel zur Straße gezogenen Zäune bedeuten auch gleichzeitig das Aus für die tibetische Nomadenkultur. Wenn Ansiedlungen im Weg sind, werden die Menschen einfach vertrieben. Die besseren Arbeitsplätze erhalten ausschließlich die Chinesen. Tibeter werden als Menschen zweiter Klasse angesehen und auch so behandelt.

In der Schule wird bis zur vierten Klasse noch auf Tibetisch unterrichtet, danach nur noch auf Chinesisch, und um Arbeit zu bekommen, muss man Chinesisch können. Der Guide berichtete, dass viele einfache Tibeter leider nicht erkennen würden, wie wichtig Bildung für ihre Kinder sei. Abschließend betonte er, dass er nur hier in den Bergen so offen mit uns reden könne, weil er hier einigermaßen sicher sei, nicht bespitzelt zu werden.

Aus diesen Gründen stellt sich bei mir bis heute noch keine Euphorie ein, die Kora um den Kailash bewältigt zu haben. Trotz rasender Kopfschmerzen, Atemnot und anderen Malaisen war es aber nicht die körperliche Anstrengung, die mir dabei hauptsächlich zu schaffen macht. Was ich nicht mehr aus meinem Kopf bekomme, sind die Bilder: Diese phantasielosen chinesischen Ortschaften, die in rasender Geschwindigkeit ins Land gelegten Asphaltstraßen auf Kosten der im Straßenbau arbeitenden Tibeter. Männer, Frauen und sogar Kinder müssen die Straßen bauen, die ihr Land zerstören, während ihre chinesischen Aufpasser rauchend daneben sitzen. Das schlimmste war das Wissen, dass die Lage in Tibet hoffnungslos ist. Der Segen der Buddhas war für mich nur an wenigen Stellen zu spüren, selbst am Kailash kaum.

Symptomatisch für die Situation des Dharma in Westtibet war für mich der Zustand eines Nyingma-Klosters, das wir auf unserer Rückfahrt besichtigten. Es war total verfallen, Unkraut wucherte zwischen den Betonplatten, aber draußen warb ein riesiges Schild für das Kloster als "Zha Ding Temple - No.1 Spot of Gangdisi". An der Tür waren zwei neue glänzende Metalltafeln angebracht, die in chinesischer Schrift wahrscheinlich auf irgendwelche fortschrittliche Errungenschaften der Partei hinweisen sollten. Die angrenzende Stupa war mit Tierköpfen behängt und von zerbrochenen Mani-Steinen umringt. Eine Art Hausmeister schloss uns auf und ließ uns nur gegen Geld fotografieren. Der Mann hatte offensichtlich auch keinen spirituellen Bezug zu dieser Stelle. Er wusste nicht, wer Manjushri ist und kannte erst recht nicht dessen Mantra, das wir ihm - als Europäer einem Tibeter! - sagen mussten.
Als eine Art Glück verheißendes Zeichen schien jedoch beim Verlassen des Klosters ein kleiner Fleck Regenbogenlicht durch die Wolken über der Silhouette dieses Ortes. Dies berührte uns bei all der Trostlosigkeit und bei all unserer durcheinander geratenen inneren Gefühlswelt. Und nicht nur bei mir löste dieser Anblick auch ein tiefes Gefühl von Dankbarkeit unseren Lehrern gegenüber dafür aus, dass wir jetzt diese kostbare Gelegenheit bei uns im Westen haben, den Dharma leben zu können...

Das schönste Bild dieser Pilgerreise entstand für mich aber schon auf der Hinfahrt zum Kailash: Die reine Freude auf dem Gesicht eines etwa zwölfjährigen tibetischen Jungen über eine geschenkte Liebevolle Augen-Karte von der Einweihung, die Gyalwa Karmapa 2009 in Tenovice gegeben hatte und die wir auf unserer Reise überall verteilt hatten. Vielleicht sind doch noch nicht alle Buddhas in den Westen gegangen...


Artur Baussmerth
1955 geboren, seit 1995 Zuflucht bei Lama Ole, Technischer Angestellter an der FH Hannover, Studiengang Fotografie.