Aspekte der buddhistischen Karma-LehreVon Manfred Seegers
Der Begriff Karma wird im Buddhismus als das Gesetz von Ursache und Wirkung verstanden. Der historische Buddha hat dieses Thema als Grundlage aller anderen Lehren beim ersten Drehen des Dharmarades erklärt. Ein klares Verständnis von den Ursachen, die immer wieder zu Leid führen, ermöglicht ein Überwinden dieser Ursachen und damit das Erreichen des Endes vom Leid, das Erleben dauerhaften Glücks. Negative Handlungen entstehen vor allem durch Unwissenheit und bewirken mehr Schwierigkeiten. Positive Handlungen basieren hauptsächlich auf stärkerer Achtsamkeit oder Bewusstheit und sind die Ursachen für mehr Glück. Werden alle Ursachen für Erleuchtung gesetzt, wird diese Wirkung, das Ziel von Buddhas Lehre, auch unweigerlich erreicht. Das ist die Essenz aller buddhistischen Lehren über Karma.
Diesen Zusammenhang zu verstehen, ermöglicht mehr Eigenverantwortung zu entwickeln. Wir bestimmen durch unsere Handlungen selbst, was wir erleben. Frühere Taten, Worte und Gedanken wurden zu unserer heutigen Welt und wir säen ständig die Samen für unsere Zukunft. Wir schaffen hier und jetzt die Ursachen für alles, was wir erleben, denn jede Handlung von Körper, Rede und Geist wird in unserem Geist gespeichert und reift später zu der entsprechenden Wirkung heran. Auch wenn wir diesen Speicherungsvorgang nicht bewusst wahrnehmen, können wir anhand der Erinnerung leicht überprüfen, dass alle Erlebnisse einschließlich unserer eigenen Handlungen im Geist gespeichert sind. Es lohnt sich daher, jede nur mögliche Gelegenheit zu verwenden, um positive Eindrücke anzusammeln und Gewohnheiten, die mehr Schwierigkeiten bringen als Nutzen, zu ändern. Die Sicht der monotheistischen Weltreligionen – hauptsächlich Judentum, Christentum und Islam – ist gefärbt von der Vorstellung von Schuld und Sühne, sowie einer göttlichen Vergeltung für alle Handlungen. Die Verantwortung wird damit an eine außerhalb stehende Instanz abgegeben. Demgegenüber lehrt Buddha das Gesetz von Ursache und Wirkung. Er zeigt uns "wie die Dinge sind" und ermöglicht uns damit, selbst Verantwortung zu übernehmen. Negative Handlungen werden, wie oben erklärt, in erster Linie aus Unwissenheit getan, denn jedes Lebewesen möchte ja Glück erleben und Leid vermeiden, macht aber aus mangelnder Bewusstheit heraus immer wieder Fehler. Die bei uns vor allem christlich geprägten Begriffe "Schuld" und "Vergeltung" haben daher im Buddhismus nichts zu suchen. Das klassische Beispiel für die vollständige Reinigung von sogar äußerst negativem Karma ist die Geschichte des Mörders Angulimala, der vom Buddha zur Rede gestellt wurde, sein Schüler wurde und noch in dem gleichen Leben die Arhatschaft (Verwirklichung) erlangt hat. Sein Gedächtnis-Stupa steht übrigens im nord-indischen Shravasti. Ähnliche Fälle waren der Kaiser Ashoka und später Milarepa, der bekannteste Yogi Tibets. Diese Beispiele erwecken ein tiefes Vertrauen in die kraftvolle Wirkung buddhistischer Praxis. Es entspricht also deutlich der Lehre Buddhas, dass alles, was noch nicht geschehen ist, geändert werden kann. Die volle Kraft einer Handlung Im "Schatz des Wissens" (1983, S. 450-458) des 1. Kongtrul Lodrö Thaye (1813 - 1899) zum Beispiel werden diese Faktoren nicht nur einmal genannt, sondern für jede der 10 negativen Handlungen einzeln erklärt (von mir aus dem Tibetischen übersetzt). So werden zum Beispiel bei der ersten Handlung des Tötens folgende Aspekte aufgezählt: 1. Die Basis ist ein Lebewesen, dessen Geiststrom verschieden ist vom eigenen. 2. Die Absicht besteht darin, dieses andere Wesen fehlerfrei wahrzunehmen (mit der Absicht des Tötens). 3. Die Handlung besteht darin, dieses Lebewesen durch Gift, Waffen usw. zu töten oder töten zu lassen. 4. Störgefühle sind allgemein die drei Geistesgifte. Im Besonderen führt Zorn diese Handlung aus. 5. Der Abschluss der Handlung besteht allgemein darin, dass die Handlung im Geist des Handelnden als ausgeführt erlebt wird und eine entsprechende Reaktion erfolgt, zum Beispiel Befriedigung darüber, dass die Tat gelungen ist und kein Gegenmittel angewendet wird. Individuelles und gemeinsames Karma Wenn es nur "individuelles Karma" gibt, was bedeutet dann der Begriff "kollektives Karma", der nach Meinung vieler kritisch Denkender bei Völkermord und anderen Massen-Ereignissen zum Tragen kommen soll? Schauen wir uns an, was die klassischen Quellen dazu sagen: Im Abhidharma-samuccaya von Asanga (u.a. zitiert im "Juwelenschmuck der Befreiung" von Gampopa, S. 94) finden wir die Aussage: "Was bedeutet Zugehörigkeit von Handlungen? Sie werden als zu uns gehörig bezeichnet, weil wir selbst die vollen Auswirkungen unserer Handlungen erfahren und weil wir diese nicht mit anderen Wesen gemeinsam haben." Gampopa merkt an: "Wäre dies nicht der Fall, dann könnte sich Karma erschöpfen oder wir würden den üblen Auswirkungen von Handlungen begegnen, die wir nicht selbst begangen haben." Diese und weitere Quellen, zum Beispiel "Mahamudra, Ozean des Wahren Sinnes" vom 9. Karmapa (1990, Teil 1, S. 39), belegen eindeutig, dass es nur individuelles Karma geben kann, das im eigenen Geiststrom heranreift und niemals in einem anderen. Damit ist allerdings noch nicht geklärt, was der buddhistische Begriff "gemeinsames Karma" bedeutet. Hier finden wir eine weitere Einteilung im "Schatz des Wissens" (S. 458) des 1. Kongtrul im Zusammenhang mit der Darstellung der vier philosophischen Schulen im Buddhismus, speziell des Fahrzeugs der Hörer (Shravakas), in dem die Vier edlen Wahrheiten in 16 Aspekten erklärt werden. Bei den Ursachen für Leid gibt es eine ausführliche Erläuterung von Karma mit zahlreichen Einteilungen. Darunter befasst sich die 5. mit der Erscheinungsweise von Karma. Diese hat zwei Aspekte: 1. Das Karma für gemeinsame Erscheinungen und 2. Das Karma für nicht gemeinsame Erfahrungen. Ersteres bedeutet, dass die äußere Welt und die Wesen darin in übereinstimmender Weise erscheinen. In diesem Sinn kann man durchaus von "gemeinsamem Karma" sprechen. Und dies ist auch genau die Erklärung, die Lama Ole wie oben zitiert gegeben hat. Der Theravada-Lehrer Nyanaponika Thera drückt diesen Sachverhalt in seinem Artikel "Karma und seine Frucht" ("Buddha – Lebensweg und Heilslehre", 1999, S. 156), so aus: "Aber diese ohnehin schon große Mannigfaltigkeit wird noch sehr stark durch den Umstand erweitert, dass jeder individuelle Lebensstrom mit vielen anderen individuellen Lebensströmen durch gegenseitige Beeinflussung ihres jeweiligen Karmas verflochten ist." Also gibt es zwar eine gegenseitige Beeinflussung, aber deswegen bleibt Karma trotzdem immer individuell, wird nur im eigenen Geiststrom gespeichert und reift auch nur dort heran, wie Asanga und später Gampopa gelehrt haben. Eine weitere, sehr genaue Erklärung dazu finden wir im Kommentar vom 1. Mipham Namgyal Gyatso (1846-1912) zum Dharmadharmatavibhaga von Maitreya / Asanga unter dem Titel "Darlegung, dass ein vom erfassenden Subjekt verschiedenes zu erfassendes Objekt nicht existiert" (Verse 70-74, in Mathes "Unterscheidung der Gegebenheiten von ihrem wahren Wesen", 1996, S. 199): "Wenn man daher dieses so genannte gemeinsam zu Betrachtende genau untersucht und feststellt, dass das so genannte Gemeinsame lediglich darin besteht, dass es ein ähnliches Erscheinen für die individuellen Persönlichkeitsströme ist, dann ist damit ein gemeinsamer äußerer Gegenstand nicht als Ursache für diese gemeinsamen Erscheinungen als wirklich erwiesen, mögen jene Erscheinungen auch ähnlich sein. Den Lebewesen, bei denen Prägungen in gleicher Weise aktiviert worden sind, erscheinen ähnliche Orte usw., solange sich die Kraft dieser Prägungen nicht erschöpft hat." Im Kommentar zur Ratnavali von Gyaltshab Je (1364-1432) (zitiert nach Eda, "Untersuchungen zu Nagarjunas Ratnavali", 2005, S. 366) heißt es: "So geht derjenige, der die Leerheit in falscher Weise auffasst, zugrunde und es erlangt derjenige das Glück des Erfolgs [im Wesenskreislauf] und die allerhöchste Erleuchtung, der die Leerheit im Sinne der abhängigen Entstehung verinnerlicht und [sie] richtig versteht, nämlich bei [den Entsprechungen zwischen] der Tat und ihrer Konsequenz ganz besonders beachtet, dass sie [dem Eigenwesen nach] leer sind." Und im Langkavatara-Sutra, V. 137 heißt es: "Ich lehre immer die Leerheit, die jenseits von Existentialismus und Nihilismus ist. Samsara ist wie ein Traum und eine Vision und Karma verschwindet nicht." In den Worten des zeitgenössischen Meisters Lobpön Tsechu Rinpoche (1918-2003): "Selbst wenn man eine hohe Verwirklichung erlangt hat, sollte man niemals Ursache und Wirkung vernachlässigen." Das Thema Karma ist sehr komplex und erfordert eigentlich eine viel umfassendere Darstellung, als sie hier möglich ist. Diese wird aber bereits in allen buddhistischen Traditionen anhand entsprechender Quellen gegeben. In einführenden buddhistischen Büchern findet man in der Regel wenigstens kurze Abhandlungen zu diesem Thema. Ich möchte diese Antworten auf einige zentrale Fragen und Kritikpunkte zur buddhistischen Karma-Lehre mit dem Wunsch abschließen, dass dadurch eine größere Achtsamkeit auf karmische Zusammenhänge entsteht, dass wir alle Handlungen von Körper, Rede und Geist, die andere bewusst oder unbewusst schädigen, aufgeben können und möglichst nur noch nützliche Handlungen ausführen. Verbinden wir diese Achtsamkeit mit Einsicht in die Natur des Geistes, so befinden wir uns ohne jeden Zweifel auf dem Weg zu dauerhaftem Glück. Manfred Seegers: Nach Abschluss eines 5-jährigen Studiums authorisierter buddhistischer Lehrer. Studierte und lehrte von 1990 - 2000 am KIBI in Neu-Delhi. Er trägt den Titel eines Master of Philosophy in Religionswissenschaft an der University of Kent, England. Seine Bücher "Buddhistische Grundbegriffe" und "Wissen über Meditation" sind in viele Sprachen übersetzt . Er hält Vorträge und Seminare im In- und Ausland. |
||
![]() |