Ich liege im Sterben. Ich weiß, dass ich sterben werde, denn meine Atmung ist mittlerweile auf 20% abgefallen. 35 Kilogramm Muskelmasse haben sich in Nichts aufgelöst und meine Fähigkeit zu schlucken wird von Woche zu Woche schwächer. Meine mir noch verbliebenen Muskeln schmerzen. Ich verschlucke mich an meinem Essen und ich kann nicht laufen. Ich kann mich nicht mehr alleine duschen oder mich waschen. Ich habe fast keine Stimme mehr, ich kann nur mit einem Finger tippen. Die größte Tragödie von allen ist: Ich kann den Korken einer Champagnerflasche nicht mehr knallen lassen. Ich befinde mich im Bardo des Sterbens.
Letzte Nacht bekam ich es mit der Angst zu tun. Im Dunkeln rang ich nach Luft, meine Atemmaske quietschte und furzte. Unfähig zu husten und unfähig mich in eine aufrechte Position zu erheben, konnte ich nicht einmal schlucken. Ich konnte nichts tun, um die stechenden Schmerzen in meinem Rücken zu mildern. Jeder Muskel zitterte und krampfte. Ich fühlte mich, als sei ich in der Hölle. Ich war gefangen, gefangen in diesem Körper, ohne irgendwohin zu können, ohne Fluchtmöglichkeit. Obwohl Elizabeth neben mir schlief, war ich nie einsamer. Ich lag da, am Rande der Panik und konnte nicht einmal schreien.
Ich möchte einige Dinge mit euch teilen, die ich in dieser interessanten Zeit, dem mir verbliebenen Rest meiner 59 Jahre, nützlich finde. Ich werde euch nichts erzählen, was ihr nicht schon vorher gehört habt. Es gibt nichts Neues. Lama Ole Nydahl reist um die Welt und lehrt diese Dinge und ich habe gehört, wie er sie immer und immer wieder sagte. Ich weiß nicht, wie er das anstellt, aber jedes Mal, wenn er kommt, schafft er es, sie neu und frisch zu machen. Ich bin nicht besonders klug. Ich kann eine einfache, tiefgründige Belehrung viele Male hören und sie geht zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder heraus. Aber jedes Mal, wenn der Lama wieder kommt, sagt er etwas, das – obwohl ich es schon viele Male vorher gehört haben mag – mich wie einen Weihnachtsbaum aufleuchten lässt. Es ist wie ein Pfeil, der sein Ziel findet. Es sitzt dann tief im Herzen und geht nicht mehr verloren. Das ist das Geschick des Lama. In dieser schwierigen Zeit meines Lebens beweise ich den Wert der Lehren. Es gibt da nichts anderes, das mir helfen kann. Ich kann nicht länger zu Mami laufen. Ich kann mich nicht länger meiner schönen Frau zuwenden. Auch ihr könnt mir nicht helfen. Wenn es hart auf hart kommt, gibt es nur eine Zuflucht.
Ich habe ALS1, eine Erkrankung des motorischen Nervensystems und es ist keine Heilmethode dafür bekannt. Obwohl ich sterben werde, nehme ich keine Medikamente. Die Ärzte können mir nicht viel anbieten. Es gibt eine Maschine, die mir nachts beim Atmen hilft. Ein Saugapparat saugt Speichel aus meinem Mund und verhindert, dass ich an meinem eigenen Speichel ersticke. Es gibt Morphium.
Neulich sagte mir ein Arzt, dass seine anderen Patienten, die an dieser Krankheit leiden, 24 Stunden täglich unter Morphium seien, denn diese Unfähigkeit zu atmen wird von Panik begleitet. Er wollte wissen, was bei mir anders sei und warum ich seine Drogen nicht wollte. Wenn Angst in mir aufsteigt, weiß ich, dass ich zum Morphium greifen kann, aber ich tue es nicht. Stattdessen tauche ich in die Angst hinein, so wie ich im Ozean in eine Welle tauchen würde. Ich umarme sie.
Zwischen Panik und Ruhe gibt es nur eine ganz feine Linie. Panik ist das Tor zur Hölle und da will ich nicht hin. Außer der Stärke und Zuversicht als Resultat der Dharma-Praxis gibt es nichts, was hilft. Ich nehme Zuflucht. Zum Besten aller Wesen nehme ich Zuflucht. Zuflucht nehmen heilt die Krankheit nicht, es nimmt auch nicht den Schmerz weg. Es bringt nicht den Atem zurück und macht das Schlucken nicht leichter. Es gibt mir Stärke. Es gibt mir Zuversicht. Zuflucht zu nehmen bedeutet, dass ich meine Mama nicht länger brauche und dass ich ohne Morphium auskomme. Zuflucht zu nehmen ist die erste Belehrung, die ich nützlich finde.
Als ich zum ersten Mal meine Diagnose erfuhr, ging ich zuerst durch eine ganze Bandbreite von Gefühlen, bevor ich mich daran erinnern konnte, dass alles eine Frage der Sichtweise ist. Das ist die zweite meiner nützlichen Belehrungen.
Anstatt die Krankheit als erschreckend und tragisch zu sehen, begann ich sie mit anderen Augen zu betrachten. Es war eine Art Vorankündigung, dass ich bald sterben würde. Ich wusste nicht, wie lange mir noch bleiben würde, aber ich hatte Zeit mich vorzubereiten: Alle meine Anhaftungen aufgeben, alle Unstimmigkeiten ausbügeln, meine Schulden zu zahlen, Leuten zu sagen, dass ich sie liebe und alle offenen Dinge zu einem guten Ende bringen. Natürlich ist uns allen im weitesten Sinne unser Tod angekündigt. Wir wissen, dass er eines Tages kommen wird. Dies war nun meine letzte Ankündigung und ich war dankbar für sie.
Alles ist eine Frage der Sichtweise. Welche Freiheit uns diese Erkenntnis gibt! Der Einfluss dieser Belehrung dringt in alle Aspekte des Lebens und bewahrt uns vor so viel unnötigem Leiden. Sie hilft gegen die Angst. Nicht so sehr in dem Moment der Angst, aber in Vorbereitung auf sie, wie wir sie begrüßen. Wir können Angst als ein unerwünschtes Monster ansehen und vor ihr davonlaufen oder wir sehen sie als wertvollen Lehrer und grüßen sie als solchen. Jedes Mal wenn ich die Angst umarme, werde ich stärker. Was für ein glücklicher Mann ich bin! Alles ist eine Frage der Sichtweise.
Die dritte Belehrung ist, sich wie ein Buddha zu verhalten, bis man einer geworden ist. Das verstärkt die Praxis der höchsten Sicht. Der Zeitpunkt, an dem wir eher ein Buddha sind, als dass wir es nicht sind, kommt. Die Praxis wird zur Wirklichkeit.
Ich habe immer vorgegeben, mutig und furchtlos wie ein Buddha zu sein. Aber heute gibt es Situationen, in denen ich nichts vorgeben kann. Ich kann es kaum fassen, was für eine Geistesstärke ich vorfinde. Die Praxis der Vortäuschung funktioniert für mich und ich bin zehn Mal der Mann, der ich war. Das bin nicht ich. Es ist ein Prozess. Und das ist die vierte nützliche Belehrung: Ich sehe mich als einen Strom von Eindrücken. Ich brauche die Dinge nicht länger persönlich zu nehmen. Wenn ich ein Strom von Eindrücken bin, dann kann ich genau so gut ein Strom von guten Eindrücken sein. Alles aus der höchsten Sicht zu sehen, führt zu guten Eindrücken; die Praxis, ein Buddha zu sein, bis man ein Buddha geworden ist, bringt gute Eindrücke; zu erkennen, dass alles eine Frage der Sichtweise ist, bringt gute Eindrücke.
Wenn die Angst kommt, nehme ich sie nicht persönlich. Es ist altes Zeug, das mich endlich verlässt. Wenn ich hindurch tauche, komme ich auf der anderen Seite heraus und erkenne, dass Angst nur eine Idee ist. Sie ist nicht einmal eine gute Idee. Ohne Angst ist es möglich, Körper und Rede als Werkzeuge zu sehen, um anderen Leuten zu helfen. Inmitten der Angst vergisst man das. Dort ist nichts. Der Tod ist nicht der Feind. Ich denke, die wirklichen Feinde sind Angst, Schlaf, Mittelmäßigkeit und einem stumpfen Geist zu erliegen. In diesem Leimtopf gefangen zu sein, ist bestimmt ein schlimmeres Schicksal als der Tod.
Lama Ole gab einen Vortrag über die Grundübungen und ich machte Notizen. Plötzlich sagte er etwas, das meine dicke Haut durchdrang. Er sagte: "Mach dir nichts draus", ohne es weiter auszuführen.
Ich kann mich nicht erinnern, dass er das je zuvor gesagt hätte und danach hörte ich es auch nicht wieder. Aber das war einer dieser Pfeile, der sein Ziel traf. Ich erkannte, wie viel ich mir immer daraus gemacht hatte, was andere über mich dachten. Ich sah, wie oft ich mich bloßgestellt hatte in meinen Bemühungen zu gefallen oder zu beeindrucken und wie viel Energie ich damit verschwendet hatte. Kümmere dich um die Menschen, aber kümmere dich nicht darum, was sie denken. Für diese Belehrung bin ich dankbar, da ich nun meinen Körper verfallen sehe und ich alle Vorstellungen von Privatem und von private parts loslasse. Jeder hat seine Sichtweise, warum soll es mich kümmern? Mir nichts draus zu machen, ist meine fünfte nützliche Belehrung.
Diese fünf Belehrungen über geschickte Mittel haben mich davor gerettet, viel Leiden und Unbehagen zu erfahren und ich schätze sie sehr. Aber es gibt etwas jenseits der Methoden. Es gibt einen Ort und einen Zeitpunkt, an der sie nicht mehr nötig sind. Ich weiß, dass es diesen Ort gibt, denn ich war dort. Es ist ein Seinszustand, in dem alles einfach ist, weil es ist. Dieser Ort ist hier und der Zeitpunkt ist jetzt. Ich habe Vertrauen darin, jetzt hier zu sein – nicht aufgrund eines Glaubenssystems, sondern durch direkte Erfahrung. Selbst wenn mein Körper um Luft kämpft, würgt oder in Muskelkrämpfen gefangen ist, habe ich ein großes Lächeln im Herzen. So ist es einfach.
Vor Jahren besuchten Elizabeth und ich einmal einen Geschäftskurs in der Stadt. Der Lehrer sagte uns, dass es im Geschäftsleben nicht zu vermeiden ist, Steuern zu zahlen. Ob man will oder nicht, jeder muss sie zahlen. Aber es gibt Wege, um die Kosten zu verringern. Buddha sagte, dass es Leiden gibt. Jeder muss leiden, ob er mag oder nicht – aber man kann es mildern. Das ist unser "Business" als Buddhisten: Wir minimieren oder beseitigen Leiden. Ich weiß, dass die Methoden funktionieren. Ich bin einer der Glücklichen.
Als die Ärztin meinen Blutdruck prüfte, war er himmelhoch. Sie geriet in Panik und war sicher, dass ich innerhalb von Minuten sterben würde. Ich bat sie, ihn noch einmal zu messen und ließ Karmapa sich in meinen Körper auflösen. Mein Blutdruck war jetzt normal und die Ärztin war total perplex. Ich verriet ihr, was ich getan hatte und jetzt läuft sie herum und sagt "Karmapa Chenno".
Kraftvolle Medizin!
Manchmal ist es schwer, die Lehren voneinander zu trennen. Jede unterstützt die nächste. Das Endergebnis ist Sicherheit, die aus einer Erfahrung entsteht, die sich aus der Arbeit ergibt. Ich bin froh, dass ich die Anstrengung gemacht habe, solange ich die Gelegenheit dazu hatte. Ich bin froh, dass ich die Möglichkeit hatte zu praktizieren. Froh am Leben zu sein und froh zu sterben.
Ein langes Leben und gute Gesundheit dem Lama, dem gegenüber ich riesige Dankbarkeit verspüre. Karmapa Chenno.
Aus dem Englischen
1 Amyotrophe Lateralsklerose, auch Lou-Gehrig-Syndrom oder Charcot-Krankheit
Stevart Jarvis aus der Sangha Perth in Australien über David Po:
David Po führte ein faszinierendes Leben. Er war ein Kommandosoldat in der britischen Armee und lebte einmal 18 Monate lang am Polarkreis, um Polarausrüstung zu testen. Einmal strandete er auf einer einsamen Insel vor Afrika, nachdem derjenige, der ihn dort abholen sollte (die einzige Person, die seinen Aufenthaltsort kannte), aus Versehen von Rebellen beschossen und getötet worden war. Er aß mit Pavarotti in der Albert Hall in London zu Mittag; er betrieb einen Hindu Ashram in Süd-Indien und wuchs in einem katholischen Seminar auf, um zum Priester ausgebildet zu werden. Dies sind nur einige wenige Beispiele des Reichtums seiner Erfahrungen.
David war überall und mit allen Menschen völlig zuhause. Lama Ole Nydahl nennt das "in der Mitte des Mandala ruhen". Er war nichts Besonderes und war es doch. Sein wichtigstes Anliegen war ihm seine Rolle als Ehemann und Vater und doch konnte er mit Fremden umgehen, als seien sie die wichtigsten Menschen, die er kannte. In völlig bescheidener Weise half, beriet und tröstete er viele Menschen. Er hatte immer einen guten Witz oder eine Geschichte auf den Lippen. Er wusste einfach immer, wie alles passte.
Selbst die allertragischste Situation war für ihn einfach nur "wie es nun mal läuft". Viele "geringere Männer" hätten großes Aufheben um das ganze Leiden gemacht, nicht jedoch David. Er litt an der unheilbaren Amyotrophen Lateralsklerose und starb innerhalb von zwölf Monaten. Seine einfache Weisheit war: Dinge geschehen, nimm sie an, lerne von ihnen, geh weiter. Seine Furchtlosigkeit inspirierte uns alle und rückte die Dinge sehr in die richtige Perspektive. David hatte großes Vertrauen in das Dharma und in seine Lehrer Lama Ole und Hannah. Er hatte großen, großen Mut und war eine Inspiration für alle, die ihn kannten.