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BUDDHISMUS HEUTE
Aus: Buddhismus Heute Nr. 50, (Herbst 2011)

"Mitgefühl und Weisheit sind der Schlüssel"

Ein Interview mit dem 17. Gyalwa Karmapa Trinle Thaye Dorje

Sie werden als ein "bewusst wiedergeborener Lama Tibets" bezeichnet. Was bedeutet das?

Die Karmapas waren in der Geschichte des Buddhismus im Allgemeinen und besonders im tibetischen Buddhismus die ersten Lamas – beginnend mit dem zweiten Karmapa –, die bewusst Wiedergeburt angenommen haben. Sie wurden als die ersten "Tulkus" bekannt.

Es sind die Wiedergeburten eines großen Bodhisattvas mit dem Namen "Karmapa", der fortlaufend wiederkehrt. Er wird in der Zukunft Erleuchtung erlangen und als ein Buddha das Rad des Dharma drehen. "Bewusst wiedergeboren" bedeutet, dass man die Freiheit hat zu wählen, wo man wiedergeboren werden will. Das ist eine Methode, die jeder im Laufe der Zeit erlangen kann. Es ist tatsächlich so aus buddhistischer Sicht.

Ist Buddhismus eine Religion oder eine Philosophie?
Buddhismus hat bestimmte Merkmale, die eine Religion aber auch eine Philosophie ausmachen, der geistige Weg selbst ist aber jenseits von beiden. Deswegen kann man Buddhismus nicht so einfach innerhalb dieser beiden Kategorien definieren.

Was sind die Kriterien für eine echten buddhistischen "Lama"?
"Lama" bedeutet Lehrer – so einfach ist das eigentlich. Ein buddhistischer Lehrer muss deswegen echtes Mitgefühl und ein großes Wissen über das Dharma, die Lehren, haben. Es oder sie muss auch jemand sein, der nicht nur lehrt, sondern das Gelehrte auch selbst praktiziert. Er oder sie muss also an sein "Produkt" glauben.
Es gibt viele weitere Qualitäten, aber diese beiden sind die wichtigsten.
Das sind Richtlinien, um einen Lehrer zu untersuchen. Darüber hinaus gibt es nicht wirklich eine Möglichkeit zu prüfen, ob jemand ein Lehrer ist oder nicht. Nur mit der Zeit wird es sich zeigen, ob jemand ein authentischer Lehrer ist.

Woher kann man denn wissen, ob ein Lehrer echtes Mitgefühl hat?
Echtes Mitgefühl drückt sich sowohl körperlich als auch geistig aus. Wenn jemand wirklich mitfühlend ist, dann zeigt sich das zu jeder Zeit und unter allen Umständen in seinem physischen und verbalen Verhalten.
Im Allgemeinen ist es deswegen so schwer, einen authentischen Lehrer zu finden, weil wir uns nur auf ganz einfache und grundlegende Beweise stützen können. Wir können zum Beispiel nicht in den Geist von anderen hineinschauen und müssen uns deswegen auf ihr Verhalten, ihre Gesten und ihre Rede stützen. Wenn jemand ruhig, besonnen und gesammelt ist, so deutet das oft auf innere Qualität hin. Dann kommt es vor allem darauf an, wie lange so jemand diese Qualitäten halten kann. Das sind grundlegende Zeichen eines qualifizierten Lehrers. Mitgefühl spielt eine große Rolle.

Können wir heutzutage einen authentischen Lama außerhalb Asiens finden?

Wenn ein Lehrer, ganz gleich ob es ein Mann oder eine Frau ist, diese grundlegenden Qualitäten besitzt, spielt es keine Rolle, ob er oder sie aus dem Osten oder dem Westen kommt.

Gibt es für buddhistische Praktizierende irgendwelche Verhaltensvorschriften oder Verbote?
Absolut gesehen gibt es keinerlei Verbote, denn jede Erfahrung der Phänomene ist nichts als ein Spiel. Bis man selbst aber vollständige Kontrolle und Stabilität dieser Erfahrung gewonnen hat, ist es ein Muss, sich der eigenen Handlungen von Körper, Rede und Geist bewusst zu sein. Wenn man das nicht ist, so wird daraus unnötiger Schaden für einen selbst und andere entstehen. Die grundlegende Richtlinie ist also, bewusst zu sein und den "Zehn guten Handlungen" zu folgen und die "Zehn unguten Handlungen" zu vermeiden.1

Es gibt die Idee, dass man sich nur dann spirituell entwickeln kann, wenn man jeglichem weltlichen Leben entsagt und in eine Höhle oder in ein Kloster geht. Ist das der Fall?
Das ist nicht so einfach und eigentlich ist es abhängig von der jeweiligen Ära, in der man lebt. Zu Milarepas Zeit zum Beispiel war es für einen selbst und für andere nützlich, wenn man sein ganzes Leben in Höhlen praktizierte. Würde aber jemand heutzutage so leben, wäre das in gesellschaftlicher Hinsicht einfach unpassend.

Eine weithin bekannte buddhistische Vorstellung ist, dass Menschen frühere und spätere Leben haben und sogar auch als Tiere wiedergeboren werden können. Stimmt das und was ist der Grund dafür?
Wiedergeburt ist eine Erfahrung des Geistes und kann in allen möglichen Formen und für eine unbestimmte Zeitdauer erfolgen. Sie ist abhängig von sowohl bewussten als auch unbewussten geistigen Handlungen und zusätzlich auch von gutem oder schlechtem Karma. Die Erfahrungen unserer derzeitigen Geburt und ebenso all unsere früheren und späteren Geburten beruhen alle auf den Handlungen des Geistes. Wenn der Geist karmisch einem sehr ähnlichen Rhythmus folgt, werden auch ähnliche Erfahrungen gewonnen. Falls der Geist aber auf und nieder springt und unsere Handlungen einem wechselhaftem Fluss folgen, werden wir alle möglichen Arten von Wiedergeburt mit unterschiedlichen Erfahrungen haben.
Wenn wir also jetzt als Menschen das Karma erzeugen, das uns eine Geburt als Insekt annehmen lässt, dann wird das so geschehen. Wenn ein Insekt wiederum das Karma für eine menschliche Geburt erzeugt, dann wird es als Mensch geboren werden. Ein Beispiel dazu: Angenommen ich wäre ein Schauspieler einer Seifenoper. Wenn ich diese Arbeit gerne weiterverfolgen möchte und gerne in der nächsten Seifenoper mitspielen will, dann werde ich ein Seifenoper-Schauspieler bleiben. Es wäre aber auch möglich, mich zu entscheiden, ein Film-Schauspieler oder ein Theater-Schauspieler am Broadway zu werden. Wir sind nicht als Seifenoper-Schauspieler geboren worden.
Manchmal denken wir, dass die menschliche Geburt unser wahres Wesen sei und diese Idee bringt alle möglichen weiteren Ideen hervor. Aber es ist wichtig zu verstehen, dass unser wahres Wesen nicht die menschliche Natur, sondern die Buddha-Natur ist. Das soll dieses Beispiel zeigen: Wir sind nicht als Seifenopern-Schauspieler geboren, es ist nicht unsere wahre Natur, Seifenopern-Schauspieler zu sein. Unser wahres Wesen in diesem Beispiel ist die Qualität des Schauspielens, also im Allgemeinen ein Schauspieler zu sein.

Wie können wir wissen, was wir einmal sein werden?
Es hängt von unserem Karma, unseren Handlungen, ab.

Können Sie die Vergangenheit und Zukunft von Menschen erkennen?
Logisch folgernd, ja.

Wie geht man mit dem Tod um?
Meistens ist vor allem Angst mit dem Tod verbunden und auch Hoffnung. Der buddhistische Ansatz ist, sich ohne diese beiden dem Tod anzunähern.

Haben Buddhisten Angst vor dem Tod?
Fühlende Wesen werden nicht als Buddhisten geboren und deswegen ist diese Frage sehr schwer zu beantworten. Das Wort "Buddhist" als Terminologie hat sich auf Grundlage unserer Sprache, Kultur, der Mischung von Sprachen usw. entwickelt. Man würde wohl besser von der "buddhistischen Herangehensweise an den Tod" zu sprechen. "Dharma-Praktizierende" wäre auch ein passenderer Ausdruck, aber mittlerweile sind die Begriffe "Buddhist" und "Buddhismus" so verbreitet, dass es schwer zu ändern sein wird.
Aber wie auch immer: Die buddhistische Herangehensweise an den Tod ist, dass er nicht so verschieden vom Leben ist, nicht erschreckender als das Leben. Auf persönlicher Ebene gibt es natürlich viele Hoffnungen und Ängste, aber der buddhistische Ansatz selbst ist sehr sanft, sehr gleichmäßig, sowohl was das Leben als auch was den Tod angeht.
Als Individuen haben wir viele Erwartungen und Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Tod. Wenn wir ein schweres Leben haben, wünschen wir uns manchmal den Tod; wenn wir dem Tod nahe sind, wollen wir leben. Die individuelle Herangehensweise ist chaotisch, aber die buddhistische ist gleichmäßig, ausgeglichen. Ein wahrer Praktizierender sollte weder vor dem Leben noch dem Tod Angst haben.
Je nachdem wie der Geist des Einzelnen funktioniert, gibt es zahllose Methoden, die man anwenden kann. Wenn wir zu entspannt sind und unsere Zeit und Energie verschwenden, dann ist es gut, sich auf die Vergänglichkeit des Lebens, eben den Tod, zu konzentrieren. Wenn wir aber von allen möglichen Ängsten zu vereinnahmt sind, geht man am besten entspannter an das Thema heran. Aber in beiderlei Hinsicht ist die Meditation auf die Vergänglichkeit der Phänomene und des Lebens ein Gegenmittel gegen Faulheit und einen überbeschäftigten Geist. Da alles vergänglich ist, gibt es nichts Bestimmtes zu erhoffen und auch keinen Grund für übertriebene Angst.
Ob wir Buddhisten sind oder nicht: Es ist das Unbekannte und die Unsicherheit des Todes und dessen, was danach kommt, das sowohl Angst als auch Hoffnung macht.

Was ist der Nutzen von buddhistischer Meditation in Bezug auf den Tod?
Buddhistische Meditation ist eine Weise mit dem Tod umzugehen, wir verwenden aber vor allem den Ausdruck "Vergänglichkeit". Durch Meditation wird es möglich, letztendlich die Schönheit der Vergänglichkeit zu sehen. Bevor wir meditieren, müssen wir uns aber darauf konzentrieren, etwas über Vergänglichkeit zu lernen und darüber nachzudenken.

Stimmt es, dass der Buddhismus lehrt, dass wir alles annehmen sollen? Egal was um uns herum geschieht: Wir sollen nichts damit machen, sondern es "philosophisch" nehmen?
Wären wir alle vollkommen erleuchtet, könnten wir die Dinge vielleicht philosophisch oder poetisch nehmen usw. Aber, obwohl alles ein Traum ist, müssen wir zuerst einmal – aufgrund unserer Gewohnheit, diesen ausgefeilten Traum für Realität zu halten – in sehr harmonischer Weise aus diesem Traum erwachen. Wenn wir in diesem Leben Verantwortungen tragen, müssen wir sie deswegen zum Wohle anderer Wesen respektieren.

Können Buddhisten politisch aktiv sein?
Die eigentliche Idee hinter der Politik, wie auch im Dharma selbst, ist, etwas Gutes für andere zu tun, etwas Gutes für die Gesellschaft, das Glück der Menschen. Wenn es aber nicht gut läuft, können sowohl die Politik als auch das Dharma mehr Schaden als Gutes bewirken.
Es ist also schwer zu sagen. Da unsere individuellen und kollektiven Karmas verschieden sind, müssen wir uns dementsprechend unterschiedlich in die Gesellschaft einbringen.
Aber meine Sicht als Praktizierender ist: Allein dadurch, dass wir das Dharma gut verstehen und die Methoden anwenden, bekommen wir schon viel Klarheit darüber, wie man die Verantwortungen an des Lebens angeht, wie man sich an der Entwicklung der Gesellschaft und dem Glück anderer beteiligt, wie man seine Verantwortung als Bürger annimmt, sich zum Beispiel an Wahlen beteiligt usw.

Welchen Nutzen kann Ihrer Sicht nach die Gesellschaft vom Buddhismus und den Buddhisten bekommen?

Ich denke, es wird zu Klarheit und Weisheit führen.

Im Juni 2009 haben Sie Russland besucht. Was war Ihr Eindruck?
Es war eine wunderbare Erfahrung. Ich traf vorher so viele Praktizierende und hörte so viel über diese Nation und so war es großartig, persönlich hier zu sein und jedermanns Hingabe zum Dharma zu sehen.

Buddhismus ist eine der traditionellen Religionen Asiens. Sind Sie zufrieden damit, wie Buddhismus hier in Russland vorgestellt wird und sich entwickelt?
Aus der Sicht eines Buddhisten war es wundervoll zu erfahren, dass es den Buddhismus in Russland bis heute als traditionelle Religion gibt. Ich denke, dass das sehr gut ist. Schon bevor ich hierherkam, freute ich mich, das zu hören und es hier dann selbst zu sehen, war eine noch größere Freude. Ich hoffe deswegen, dass die Menschen von den den traditionellen Übungen Nutzen haben.

Welches sind die größten Probleme oder Hindernisse – aus Ihrer Sicht als buddhistischer Lama – für die spirituelle Entwicklung heutiger Menschen?
Mangel an Mitgefühl. Fühlende Wesen, die so wie wir als Menschen geboren wurden, haben all die Mittel, Geschick und sogar Weisheit. Ich denke, wenn man das mit größerem Mitgefühl verbinden kann, dann könnten wir jedermanns Träume wahr werden lassen.

Wie sehen Sie die Zukunft der Menschheit?
Es hängt davon ab, wie wir jetzt handeln. Unsere Taten und Absichten werden die Zukunft der Welt bestimmen. Deswegen sind Mitgefühl und Weisheit der Schlüssel.

Was raten Sie den Menschen in Russland, damit sich ihr Leben verbessern kann und mehr Bewusstheit, Freude und Reichtum entsteht?
Entwickelt Hingabe gegenüber den eigenen Lehrern, der Familie, den Freunden und allen anderen. Mitgefühl und Weisheit sind die Werkzeuge, die das unterstützen.

Gyalwa Karmapa gab dieses Interview im Jahre 2010 der Moskauer Zeitschrift "Monolit"

Aus dem Englischen Mit freundlicher Genehmigung von "Monolit", Moskau

1 Zu vermeiden sind: Töten, stehlen, sexuell Schaden zu fügen, lügen, intrigieren, grobe Rede, sinnlos es Gerede, Böswilligkeit, Missgunst, falschen Sichtweisen folgen. Die zehn guten Handlungen sind jeweils das Gegenteil davon.

 


17. Karmapa
Trinle Thaye Dorje Karmapa verkörpert die Tatkraft aller Buddhas und ist das Oberhaupt der Karma Kagyü Linie des Diamantweg-Buddhismus. Der Karmapa gilt als der erste bewusst wiedergeborene Lama Tibets – so war ein Schüler des 4. Karmapa der Lehrer des 1. Dalai Lama. Bis heute gab es 17 Inkarnationen dieses "Königs der Yogis von Tibet". Der 16. Karmapa floh 1959 aufgrund der chinesischen Besetzung aus Tibet und sicherte von Sikkim/Indien aus das Weiterbestehen des Diamantweg-Buddhismus.
1981 starb er in der Nähe von Chicago. Der jetzige 17. Karmapa Thaye Dorje (geb. 1983) konnte 1994 das chinesisch besetzte Tibet verlassen und in die Freiheit nach Indien gebracht werden.
Seitdem wird er dort in der überlieferten buddhistischen Lehre unterrichtet und erhält gleichzeitig eine westliche Schulbildung. Außerdem leitet er große Zeremonien und wird zu Staatsbesuchen in asiatische Länder eingeladen. Anfang 2000 bereiste er zum ersten Mal Europa.