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BUDDHISMUS HEUTE
Aus: Buddhismus Heute Nr. 5, (Herbst 1990)

Meditation im Alltag

Von Lama Jigme Rinpoche

Das heutige Thema ist, wie man Meditation in den Alltag bringt. Die meisten von uns haben ständig viel zu tun. Unser Leben ist heutzutage ziemlich hektisch. Aber wenn der Körper mit vielen Aktivitäten beschäftigt ist, dann bedeutet das nicht, daß der Geist nicht in einem friedlichen Zustand sein kann, daß er bei all dem was man tut nicht trotzdem achtsam sein kann. Es gibt zwar auch Leute, die die Möglichkeit haben, ohne die übliche Aktivität und Hektik, ihre Zeit mit Meditation zu verbringen. Aber wir wollen heute darüber reden, wie man es schafft, in unserem täglichen Leben zu meditieren.

Gewöhnlich denken wir, Meditation bedeutet, einen ganz ruhigen, stillen Geist zu haben. Aber man kann es auch anders ausdrücken. Man kann sich darauf beziehen, daß jedes Wesen die Möglichkeit, das Potential für diesen friedvollen und ausgeglichenen Geisteszustand schon in sich trägt. Nur können wir es nicht realisieren, nicht wahrnehmen und nicht nutzen. Dieses Potential zu erkennen und zu nutzen wird durch die Negativität, die man in sich trägt, verhindert. Damit sind im wesentlichen die widerstreitenden Gefühle gemeint. Wenn man die Natur dieser störenden Gefühle - das, was eigentlich da drin steckt - genau erkennen kann, dann realisiert man diesen ursprünglichen, uns allen innewohnenden, perfekten Geisteszustand. Man sollte versuchen, das Übel an der Wurzel zu packen. Die Wurzel aller störenden Gefühle zu entdecken, damit man sein Potential, seine perfekten Möglichkeiten sehen und praktisch nutzbar machen kann, das ist die Aufgabe der Meditation. Wenn man die Weisheit, sein Potential zu erkennen, nicht besitzt, dann lebt man in illusorischer Existenz, man erlebt alles auf eine verdrehte Art und Weise.

Das Potential für die Buddhaschaft, also für den perfekten Zustand des Geistes, ist schon da. Weil wir es aber nicht erleben können, haben wir immer das Gefühl, daß uns etwas fehlt, und wir suchen immer nach irgend etwas, was das Leben tiefer, wertvoller macht. Dieses Suchen ist das Leiden, das wir die ganze Zeit in uns tragen, was uns ständig begleitet. Aufgrund der Unwissenheit gegenüber der Natur unseres Geistes haften wir an der Vorstellung von einem Ich und beziehen alles auf dieses Ich. Durch dieses Haften wird die Welt zweigeteilt, wir erleben sie als dualistisch. Dadurch entstehen alle Konflikte zwischen "mir" und "den anderen". Diese Trennung zwischen sich und den anderen zu erleben, ist, was wir Verwirrung oder die Schleier des Geistes nennen. Sie stammen letztendlich aus Unwissenheit und aus Gewohnheitsneigungen, die wir aus dieser Unwissenheit gebildet haben. Das führt immer wieder zu Leiden. Bei dem 1. Versuch, einen glücklichen, perfekten und zufriedenen Zustand des Geistes zu finden, scheitern wir aufgrund unserer Unwissenheit, weil wir nicht wissen, wie wir es bewerkstelligen sollen und wir erleiden immer wieder schwierige Zustände.

Durch Meditation ist es nun möglich, die Ursachen, die Funktionsweise und letztendlich die Natur dieser störenden Gefühle und dieser geistigen Schleier zu erkennen. Sicherlich kennen wir schon störende Gefühle, aber bis jetzt hatten wir - ohne Meditationspraxis - nicht die Möglichkeit, auf sie Einfluß zu nehmen, wenn sie einmal entstanden waren. Aber indem man mehr und mehr meditiert und ihre Natur und wahre Essenz erkennt, verlieren sie an Kraft und wir bekommen nach und nach Kontrolle über sie. Wir leben hier sozusagen mitten in unseren störenden Gefühlen, aber das Wesentliche ist, sich davon nicht berühren, nicht verwirren zu lassen. Hierfür gibt es Bilder, wie zum Beispiel die Lotosblume: Sie wächst aus dem Schlamm heraus, hat aber eine reine, perfekte Blüte. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen: Wenn man durch Schlamm läuft, dann wird die Natur der Füße dadurch nicht schmutzig.

Sie werden in ihrem Wesen letztendlich dadurch nicht verändert. Wir sollten lernen, mit unseren störenden Gefühlen in derselben Weise umzugehen. Wenn sie auftauchen, sollten wir uns nicht davon mitnehmen lassen, in unserem Wesen davon nicht erschüttern lassen. Um sich nicht von seinen störenden Gefühlen mitreißen zu lassen braucht man Achtsamkeit. Man braucht eine Achtsamkeit, die auf das gerichtet ist, was gerade in uns vorgeht bei all unseren Aktivitäten. Dann wird man nicht mitgerissen, wenn etwas passiert.

So etwas funktioniert tatsächlich. Man braucht nur einmal daran zu denken wie es ist, wenn man mal in Nepal herumlaufen muß. Nepal ist bekanntlich eine sehr schmutzige Gegend. Trotzdem ist es möglich, mit sauberen Schuhen durchzukommen. Man muß eben so achtsam sein, daß man genau die Stellen entdeckt, wo man den Fuß hinstellen kann, damit die Schuhe nicht schmutzig werden. Ich habe einmal Leuten, mit denen ich in Nepal reiste, gesagt, daß man jetzt Achtsamkeit braucht, um nicht ganz schmutzig zu werden, aber sie haben den tieferen Sinn davon wohl nicht verstanden. Es geht darum, sich in jedem Moment bewußt zu sein, was eigentlich passiert und dann die "sauberen Stellen" zu entdecken, wo man richtig geht.

Wenn man anfängt, sich der Natur seiner störenden Gefühle bewußt zu werden, ihre Essenz zu erkennen, dann hilft das erst einmal einem selber, denn man wird nicht mehr so getroffen von den verschiedenen Situationen. Aber es führt einen später auch darüber hinaus, denn wenn man sehr gut versteht wie die Dinge in einem selber funktionieren, dann versteht man auch, daß die anderen sich in derselben Situation befinden. Man kommt dahin, daß man Mitgefühl, Wohlwollen und Verständnis den anderen gegenüber entwickeln kann.

Die stärksten Störungen, die in uns auftauchen, entstehen eigentlich dadurch, daß wir die Situation der anderen nicht verstehen. Zwar ist es leicht zu entdecken, wenn wir starke störende Gefühle haben und vielleicht schaffen wir es auch, uns dagegen zu schützen. Aber die feine, tiefer liegende Motivation, die dazu führt, entdecken wir erst einmal nicht. Wenn wir zum Beispiel zornig sind, dann finden wir immer beim anderen den Grund für unseren Zorn. Wir sehen nicht, daß da drunter eigentlich unsere eigene Negativität, unsere eigene Aggressivität liegt, daß sie den Zorn in uns entstehen läßt. Man muß die Situation also sehr viel genauer analysieren, um dem auf die Spur zu kommen.

Wenn wir das Beispiel vom Schmutz nehmen, dann ist es natürlich der Schmutz, der irgend etwas schmutzig macht. Er ist es, der hinterher an den Schuhen klebt. Wenn man aber tiefer schaut, dann sieht man, daß er das nicht von selbst tut, sondern daß wir dafür unseren Fuß hinein setzen müssen. Dann erst geben wir ihm die Gelegenheit, uns zu beschmutzen. Auf diese Weise sollte man auch seine störenden Gefühle betrachten und sehen, daß natürlich irgend etwas den Anlaß liefert, daß es aber wir selbst sind, die sich dann da hinein begeben, davon mitreißen lassen und dann dadurch Probleme bekommen.

Das mag sich so anhören, als müßte man die ganze Zeit in Nachsinnen und Grübeln über die verschiedenen Störungen versinken, ständig darüber nachdenken, was wir verkehrt machen. Aber eigentlich ist es gar nicht so kompliziert. Wir brauchen zwei Bedingungen, um den Geist unbefleckt von den verschiedenen Störungen zu halten. Die erste Bedingung ist eine wohlwollende Einstellung gegenüber den anderen, das heißt, die anderen genau so wichtig zu nehmen wie sich selbst und ihnen alles Gute zu wünschen. Die zweite Bedingung ist, durch die Meditation zu lernen, die Natur des Geistes selbst zu sehen, damit man versteht, wie störende Gefühle entstehen, so daß man deren Wurzeln abschneiden kann. Mit diesen beiden Bedingungen, dem Wohlwollen und der Kraft aus der Meditation, aus der Achtsamkeit und der Weisheit, die aus ihr entsteht, kann man die störenden Gefühle besiegen und nicht mehr anfällig für sie werden.

Die erste Notwendigkeit ist also, anderen nutzen zu wollen. Das bedeutet, allen zu wünschen, daß sie alles Glück und die Ursache, die zu diesem Glück führt, besitzen mögen. Glück bedeutet hier die Freiheit von Leiden. Sobald kein Leiden mehr da ist, entsteht eigentlich automatisch Glück. Genauso wie wir Anstrengungen machen, um für uns Glück und die Ursache für Glück zu entwickeln, sollten wir dieselben Anstrengungen eben auch für die anderen machen, alles unternehmen, damit sie sich genau so glücklich fühlen und die Ursachen für Glück in ihnen entstehen. Hier geht es also um die Motivation. Wenn wir versuchen, Leiden, und alles was zu Leiden führt, zu vermeiden und uns in dieser Hinsicht anstrengen, dann sollten wir auch dasselbe für die anderen wünschen und alles unternehmen, was in unserer Macht steht, um Leiden und die Ursachen für Leiden von ihnen zu nehmen. Das hat etwas mit unserer Meditation im täglichen Leben zu tun, denn wenn wir mit dieser Einstellung handeln, dann ist das Meditation im Alltag.

Es ist nicht einfach, den tiefen Sinn dieser Motivation zu verstehen, richtig zu verstehen, wie tief sie wirkt. Wenn wir von störenden Gefühlen, wie zum Beispiel Eifersucht betroffen sind, dann führt das zu Leiden und aus dem Erlebnis dieses Leidens neigen wir dazu, auch in alle anderen Arten von störenden Gefühlen hinein zu geraten. Dann entsteht zum Beispiel Zorn auf jemanden, der uns Anlaß zur Eifersucht bietet, oder Rachsucht, oder Gier nach dem, was jemand anders besitzt, das wir nicht haben.

Wenn man tiefer in die Natur eines störenden Gefühls hineinschaut und die Negativität darin erkennen kann, dann führt das dazu, daß man es vermeiden kann und so auch sein Ergebnis - nämlich das Leiden - vermeiden kann. Und weil man dann dieses Leiden nicht erlebt, tauchen auch die anderen störenden Gefühle nicht mehr auf. In dieser Weise kann der Geist dann in Frieden verweilen. Dieses Gefühl oder diese Einstellung zu entwickeln, daß man selbst und alle anderen in vollständigem Glück und Frieden, ohne die geringste Spur von Leiden, leben mögen, entsteht nur, wenn man vorurteilsfrei ist, beziehungsweise wenn man die anderen als gleichwertig ansieht. Ohne diesen Gleichmut wird der Wunsch nicht allumfassend und vollkommen stabil. Wenn man diesen Wunsch aber entwickelt, entsteht daraus ein völlig gleichmütiger und ausbalancierter Geisteszustand. Dies ist es, was wir anstreben.

Wir können leicht über solche Dinge reden wie, daß man nicht an sich selbst haften und anderen gegenüber Mitgefühl haben soll. Intellektuell ist das auch leicht zu verstehen und so könnte man denken, es wäre eine einfache Sache. Tatsächlich geht es aber darum, ein direktes, persönliches Erlebnis davon zu bekommen. Das intellektuelle Verstehen der Dinge soll uns dahin bringen, daß wir mit negativen Handlungen aufhören, daß die Ursachen für die Negativität blockiert werden. Aber wir müssen immer im Geist halten, daß es mit Worten allein nicht getan ist, sondern daß man es anwenden, es zum Erlebnis, zur Erfahrung machen muß. Was wir also entwickeln müssen, ist die Achtsamkeit, in jeder Situation die Umstände bewußt zu erleben und auch sehen zu können, wo es möglich ist einzugreifen, wo wir kontrollieren können, damit es nicht zu Negativität kommt. Je mehr man diese Achtsamkeit und Behutsamkeit ausdehnt, um so mehr wird daraus eine Gewohnheit werden. Eine Gewohnheit, die uns dann hilft, uns Stück für Stück weiter zu entwickeln.

Die erste Methode ist also, eine nützliche Einstellung zu entwickeln, die einem hilft, den Geist auszugleichen. Die zweite Methode ist dann die Meditation selbst. Meditation bedeutet, sich der Natur des Geistes bewußt zu werden, so achtsam zu werden, daß man den ständigen Fluß von Erfahrungen bewußt erlebt. Dabei ist das erste, daß man den Geist zur Ruhe bringt. Man achtet darauf, daß der Geist in Ruhe bleibt und bemerkt, wenn plötzlich Veränderungen in seiner Funktionsweise entstehen. Dann versucht man, ihn wieder in den Zustand von Ruhe zurück zu bringen. Der Sinn ist also, von dem, was ständig im Geist geschieht, nicht abgelenkt zu werden. Man versucht, ihn immer wieder zu dem ruhigen Zustand zurückzubringen, der sich seiner selbst bewußt ist, wo er in sich selbst verweilt und nicht abgelenkt ist.

Damit dieser Zustand nicht beeinträchtigt und nicht befleckt wird, ist es wichtig, daß man keinerlei Hoffnung und auch keinerlei Furcht hat. Keine Hoffnung darauf, daß etwas Angenehmes passieren wird und keine Furcht vor etwas Unangenehmen. Hoffnung und Furcht bringen den Geist wieder durcheinander, regen ihn auf und dann ist keine Ruhe mehr vorhanden. Der Geisteszustand sollte in die Mitte kommen, jenseits von irgendwelchen Erwartungen. So zu meditieren, bringt viele Vorteile: Das Wesentliche ist, daß durch die Meditation die Natur des eigenen Geistes erkannt wird. Es wird die Art und Weise, wie unser Geist funktioniert erkannt und das bedeutet, daß wir uns selbst kennenlernen, wir lernen unser eigenes Wesen kennen und wir lernen zu sehen, wie in unserem Geist Störungen entstehen. Wir lernen weiterhin auch die Natur, die Realität dieser störenden Gefühle kennen und wir können das Negative in ihnen, wie auch die positive Möglichkeit, den Weisheitsaspekt, erkennen. Wir bekommen ein Gefühl dafür, inwieweit die anderen oder wir selbst verantwortlich sind für das Erscheinen von störenden Gefühlen. Wenn wir uns selbst und die Funktionsweise unseres Geistes verstehen lernen, dann wird es uns auch leicht fallen, die anderen zu verstehen, wie es ihnen geht, wie sie erleben. Dann können wir sie besser verstehen und mit einbeziehen.


Lama Jigmela Rinpoche
Übersetzung: Tina Draszcyk
Bearbeitung: Pit Adams