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BUDDHISMUS HEUTE
Aus: Buddhismus Heute Nr. 45, (Sommer 2008)

Tibet: Zurück zu den Wurzeln

Von Magdalena Maria Przyjemska

Im Sommer 2007 beschlossen drei Freunde nach Ost-Tibet zu reisen. Durch Lama Oles Rat bestärkt, überwanden sie ihre letzten Zweifel und Anfang September waren sie bereits dort: Franz aus Perth/Australien, Thomas "Yogi-Bär" aus Berlin und ich. In drei Monaten wollten wir die wichtigsten Pilgerorte von Kham erkunden.

Wir machten uns als Praktizierende auf den Weg, um die Wurzeln des Diamantweg-Buddhismus in Tibet zu erkunden. Für uns war die Reise aber auch aus anderen Gründen interessant: Thomas ist ein wagemutiger Filmemacher (er gründet gerade eine Filmproduktionsfirma und interessiert sich besonders für Yogis), Franz war sein freudvoll-kreativer Assistent, und ich bin eine detailverliebte Forscherin und arbeite zur Zeit an meiner Doktorarbeit in Tibetologie an der Humboldt Universität in Berlin. Meine Forschungen konzentrieren sich auf Meditation in Zurückgezogenheit an den Pilgerorten Ost-Tibets, deren Ursprünge und rasante Entwicklung in den letzten Jahren.

Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung eines Reisejournals, das ich regelmäßig aus den Internetcafés in Kham veröffentlichte.

10.09.2007: Auf dem Dach der Welt
Endlich in Tibet! Wir befinden uns auf 3300 Meter Höhe und haben bereits 4000er-Pässe hinter uns. Heute sind wir in Kandze, in der Nähe des Ortes, den Ole und Hannah als ein Dorf wiedererkannten, in dem sie in früheren Inkarnationen lebten.

Khampas sind freundliche Menschen. Sie lächeln uns an, begrüßen uns und freuen sich ganz offensichtlich, uns zu sehen. Die Khampa-Männer sind genauso, wie sie beschrieben werden: stark, clever, würdevoll und freudvoll - und sich dessen bewusst, wie gut sie in ihrer schicken Kleidung aussehen. Wir fühlen uns bei ihnen wie zuhause.

Trotz Kurzatmigkeit und Schwächegefühlen aufgrund der Höhe machen wir uns auf Entdeckungstour. Es ist so ein gutes Gefühl, an diesem Ort zu sein! Überall sieht man Gebetsfahnen und Mantras. Thangkas und Fotos von Lamas hängen über jeder Tür und an den Wänden, und in den Felsen sind Buddhas eingemeißelt. Die Aussicht ist herrlich: hoch liegende Felder vor einem eindrucksvollen Schneeberg-Panorama.

18.09.2007: Derge
Wir sind in Derge, der historischen Hauptstadt des größten Khampa-Königreichs. Auf dem Weg hierher mussten wir den Tro-la-Pass (5000 Meter) überqueren. Gemeinsam mit den Tibetern riefen wir - zum ersten Mal in diesem Leben - laut das glückbringende "Lha gyal lo!" ( "Mögen die Buddhas siegreich sein!").

Wir besichtigen die Derge-Druckerei, die in ganz Tibet für die Herausgabe der meisten Dharma-Texte und die Qualität der Drucke berühmt ist. Wenn man bedenkt, dass tibetische Literatur vom Umfang her die zweitgrößte der Welt ist, kann man sich vorstellen, wie viele Holzdrucke dort aufbewahrt werden. Sie werden in riesigen Regalen gelagert, entweder nach Themen (Sutra, Tantra etc.) geordnet oder nach Edition. Die Druckerei wurde im 17. Jahrhundert vom König von Derge gegründet. Für die Tibeter ist sie ein Pilgerort von großer spiritueller, nationaler und kultureller Bedeutung. Sie umschreiten sie wie einen Stupa und machen vor dem Eingang Verbeugungen. Beim Betreten des Gebäudes ergreift uns ein Gefühl der Überwältigung darüber, dass die Mittel für das Glück aller Wesen in den einfachen Holzblöcken eingraviert sind, die so ordentlich in den riesigen dunklen Räumen der Druckerei gelagert werden.

05.10.2007: Zurück aus den Bergen
Wir sind zurück aus den Bergen, nach zehn Tagen auf über 5000 Metern Höhe. Zwar ohne Dusche und Strom, mit schlechtem Essen, unter gleißender Sonne oder in der durchdringenden Nachtkälte, mit Ratten und Spinnen überall - aber auch im Segen der Kraftorte und mit den erstaunlichen Lebensgeschichten der Menschen dort.

Pema Shelphuk, die "Lotus-Kristall-Höhle", liegt bei Dzongsar, einem der größten monastischen Sakya-Zentren in Kham. Pema Shelphuk besteht aus zwei Höhlen und hier wurde eine der wichtigsten versteckten Belehrungen (tib.: Terma) über die "Große Vervollkommnung" (Tib. Dzogchen) enthüllt. Wenn man um die Höhle herum geht, entdeckt man viele selbstentstandene Silben und Fußabdrücke in den Felsen - denn zu diesen wundersamen Wiesen kommen die Dakinis zum Tanz. Diese ganze Gegend inmitten unberührter Natur mit seltsamen Felsformationen mutet wie ein reines Land an.

Wir lassen uns in der kleineren "Yeshe-Tsogyal"-Höhle nieder, um uns endlich wieder unserer Praxis zu widmen. Bei der Haupthöhle, der "Guru-Rinpoche"-Höhle, lebt ein Mönch und obwohl er sich seit Jahren in einem Schweigeretreat befindet, gibt er uns vor laufender Kamera ein Interview. Er ist ein Schüler von Adzom Drukpa Rinpoche und praktiziert die "Große Vervollkommnung". Wir sind sehr beeindruckt von seiner Entschlossenheit und Hingabe, erzählen ihm von unseren Lehrern und zeigen Fotos von ihrer Dharmaaktivität im Westen. Zum Schluss stellt er uns Fragen über die Praxis. Er will eine Diskussion über Meditation mit Leuten beginnen, die er anscheinend als seinesgleichen sieht.

Karmo Taktsang ("Nest der Weißen Tigerin") - eine Sakya-Einsiedelei - ist einer von 13 Kraftplätzen im Himalaya, der mit dem kraftvoll-schützenden Aspekt eines auf einer schwangeren Tigerin reitenden Guru Rinpoches verbunden ist. Nach fünfstündiger Wanderung auf teilweise 5000 Metern Höhe kommen wir an. Dieser Ort - ein Berg mit dichten Wäldern, die von vielen Wildtieren bewohnt sind, geschmückt von Mani-Mauern und Schleiern von Gebetsfahnen, gespeist von Quellen und Flüssen - besitzt die Aura eines verwunschenen Waldes. Die zwei Guru-Rinpoche-Höhlen sind von einem kleinen Retreatgebäude umgeben. Oben befindet sich eine Meditationshöhle, die der erste Mipham Rinpoche 13 Jahre lang nutzte.

Sieben junge Männer befinden sich hier am Ende eines Fünf-Jahres-Retreats. Offensichtlich sind sie bereits "vom Meditationsvirus befallen", da die meisten von ihnen in Zukunft noch mehr Retreat praktizieren wollten. Wir versuchen dort, unsere Reiter zu ein wenig Praxis zu animieren. Das ist gar nicht so einfach, denn Buddhismus ist in Tibet klar geteilt in beliebte Praktiken für das einfache Volk (Stupa-Umrundungen, Gebetsmühlendrehen, Wiederholen des Mani-Mantras usw.) und Meditationen für die "Profis" in roten Roben (zum Beispiel Meditationen mit aufbauender Phase und Vollendungsphase). Wir können unseren Lehrern dankbar sein, dass bei uns im Westen die höchsten Belehrungen allen zugänglich gemacht werden. Aufgrund unserer Bildung, unserem demokratischen Denken und anderen Faktoren, die es nur im Westen gibt, fallen diese Methoden bei uns auf fruchtbaren Boden. Noch dazu sind, soweit wir das beobachtet haben, die meisten Retreatler in Tibet Mönche und Nonnen. Es ist Tradition, die Gelübde zu nehmen.

In Karga, einer großen Retreatsiedlung und einem "Liebevolle Augen"-Kraftplatz leben etwa 270 Mönche und Nonnen. Diese blühende Aktivität ist Khenpo Senge zu verdanken, einem in Ost-Tibet hochgeschätzten Meister. Er zieht eine wachsende Zahl von Meditierenden an, von denen etwa hundert beschlossen haben, ihr ganzes Leben dort zu verbringen. Er hat auch viele Laien-Schüler, von denen einige erfolgreich das Phowa praktiziert haben. Ein Treffen mit dem Meister endet erneut mit Fragen an uns, aber diesmal fühlt es sich wie eine Prüfung an. Zum Schluss sagt er nachdrücklich, dass wir uns immer darüber bewusst sein sollten, zu welchem Zweck wir bestimmte Mittel verwenden. Seine Augen erinnern mich an Oles Augen: stechend wie Röntgenstrahlen, aber zugleich mit einem freudvollen, jungenhaftem Zwinkern.

In Karga beeindrucken uns besonders ein junger Mönch, der in einer Höhle lebt, die so klein ist, dass er gerade noch hineinpasst und die Praktizierenden der "Inneren Hitze" (tib.: Tummo), die das Gelübde abgelegt haben, nur noch leichte Kleidung zu tragen. Auf unserem Rückweg treffen wir drei Nonnen, die den gesamten Weg von Kham nach Lhasa per Verbeugungen zurücklegen wollten. Mit rund zwölf Stunden pro Tag benötigten sie dafür rund neun Monate. Sie sagen: "Winter ist gut, weil man dann auf dem Eis rutschen kann" - wir fühlen uns wie "Sonnenschein-Buddhisten".

23.10.2007 : Die Kagyüpas von Nangchen
In Nangchen im Norden von Kham ist die Kagyü-Tradition vorherrschend. Wir hatten uns in Tibet bemüht, unserer eigenen Linie aus dem Weg zu gehen, da wir wissen, dass die Tibeter in der Regel sehr auf Urgyen Trinle fixiert sind. Aber als wir an einem uns empfohlenen Ort namens Goche Gompa ankamen, sahen wir überall Bilder von Situpa und Urgyen Trinle. Eine unangenehme Situation, aber wir hatten die Strapazen einer langen Fahrt auf uns genommen und nun waren wir dort. Der Lama, der uns herumführte, war ein freundlicher und feiner Mann. Er stellt uns einem älteren Yogi vor, der über viele Jahre das "Große Siegel" (skt.: Mahamudra) praktiziert hatte - während der Kulturrevolution sogar im Geheimen. Dieser zahnlose alte Mann sagte uns, sein Leben werde "immer freudvoller und freudvoller".

Im Haupttempel befanden sich viele schöne Statuen aller Karma Kagyü-Linienhalter und seltene Fotos des 16. Karmapa. Traurigkeit stieg in mir auf, als ich ihn mit seinen vier "Herzenssöhnen" sah: ein Bild aus den guten, alten Tagen zeigte das junge, unverdorbene Gesicht Situpas und einen unschuldigen Gyaltsabpa...

25.10.2007: Der baumwollgekleidete Verwirklicher
In Goche Gompa hatten wir einen Hinweis auf einen großen Siddha erhalten, der ein Retreatzentrum an einem der 25 Kraftplätze von Guru Rinpoche betreibt. Der Khenpo der dortigen Shedra stellte uns viele Fragen und erklärte uns, dass seine Schulmeditationsklassen obligatorisch seien. Aber wenn Leute wirklich praktizieren wollten, zögen sie in die Lachi-Einsiedelei in den Bergen, Heimat eines höchstverwirklichten Meditationslehrer - Repa Tsultrim Tarchin.

Repas sind Praktizierende, deren Lebensweise sich nach dem berühmtesten aller Repas richtet - dem Yogi Milarepa. Sie geloben, auch im härtesten Himalaya-Winter nur eine Schicht Baumwolle zu tragen, nur wenig zu essen und in Höhlen oder winzigen Hütten zu leben. In Lachi waren vier dieser erstaunlichen Menschen zu Hause, neben etwa 120 anderen Meditierenden.

Wir wurden dort so warmherzig empfangen, dass uns das geradezu verlegen machte. Man gab uns das Gefühl, zu Hause angekommen zu sein - und das, obwohl wir uns offen zu Karmapa Thaye Dorje bekannten! Der hohe Lama von Lachi, Tsultrim Dudul Rinpoche, überraschte uns vollends, als er ein Foto von Karmapa Thaye Dorje nahm und auf sein Herz drückte. Dann schloss er lange Zeit die Augen und danach behielt er das Foto. Der Rinpoche hatte viele Jahre im Retreat verbracht und die speziellen Methoden der Kagyü-Linie unter anderem die Sechs Yogas von Naropa praktiziert.

Das Programm im Retreatzentrum war erfrischend vertraut: Vier Sitzungen von entweder den Grundübungen, Guru Yoga auf den 8. Karmapa, Sechs Yogas Naropas oder dem "Großen Siegel". Die Meditierenden waren zum größten Teil Frauen und junge Mädchen. Außerdem lebten dort mindestens zehn Kinder - alle auf eigenen Wunsch und alle wollten so werden wie ihr Wurzellama.

Als es für uns soweit war, den großen Siddha zu treffen, führte uns der junge Rinpoche hoch auf den Berg. Er sagte uns, dass ihr Lehrer nur seine Schüler empfängt. Früher hätte er auch "Buddhistengruppen aus dem Westen" willkommen geheißen, hätte das aber vor kurzem aufgegeben, enttäuscht von häufigen Besuchen der Schüler von Akong Tulku, die in seinen Augen "nicht wirklich am Dharma interessiert waren". Wir wurden gebeten, ihn nicht nach seinem Leben zu fragen, da er völlig jenseits seiner eigenen Geschichte sei. Wir könnten ihm allerdings Fragen zu unserer eigenen Meditationspraxis stellen und wir dürften ihn auch filmen. Der "Preis", den wir für die Unterbrechung seines Retreats zahlen sollten, waren 1 Million OM BENZA SATO HUNG für jeden von uns...

Er saß in einer Hütte die so winzig war, dass er kaum hineinpasste, und trug nur eine dünne, weiße Robe. Mit seinen kurzen, grauen Haaren, seinen klaren Gesichtzügen und seiner kraftvollen Gestalt sah er beinahe wie ein Westler aus. Sein ganzes Wesen war geprägt von einer Aura einer "intensiven Einfachheit". Als westliche Frau bin ich kein großer Fan der Sitte, sich vor Lamas oder Buddhastatuen mit voller Körperlänge zu verbeugen, aber irgendwie sank mein Körper auf den Boden und meine Stirn berührte dreimal in der traditionellen tibetischen Respekterweisung den Boden.

Tsultrim Tharchin war ein Schüler des 16. Karmapa und von seinem Lehrer, dem Yogi Karma Norbu. Er hatte viele Jahre im Retreat verbracht und die "Innere Hitze" sowie das "Große Siegel" gemeistert. Nun saß er vor uns in seiner winzigen Hütte, drehte seine Mala und schaute friedlich auf die bergige Landschaft vor ihm. Keiner von uns brachte eine Frage zustande. Ich nehme an, alle Antworten waren bereits da...

28.10.2007 Der Yogi von Jyekundo
In Jyekundo sahen wir die Reliquien eines erst vor wenigen Wochen verstorbenen Sakya-Lamas, Lama Norsang. Er war Schüler des großen Dzongsar Khyentse Chokyi Lodrö gewesen und hatte den größten Teil seines Lebens in Zurückziehung verbracht. Dann ließ er sich in einer Meditationshütte in der Nähe eines Dorfes nieder und entwickelt eine enge Verbindung mit den Dorfbewohnern. Er aß kaum etwas und trug nie warme Kleidung. Die Dorfbewohner sagten, dass ihr Leben viel einfacher geworden sei, seit er aufgetaucht war. Lama Norsang starb in Meditationshaltung und sein Herzzentrum blieb zwei Tage lang warm.

Während der Verbrennung zeigte sich ein doppelter Regenbogen um die Sonne und es entstanden Segensperlen. Sein Herz, seine Zunge und seine Augen verbrannten nicht, sondern verschmolzen zu einem einzigen Teil! Das ist das Segenszeichen für erleuchteten Körper, Rede und Geist.

Die Reliquien wurden in einer verzierten Truhe in der Meditationskiste aufbewahrt, in der Lama Norsang gestorben war. Die Dorfbewohner brachen in lautes Weinen aus, als die Überreste ausgepackt wurden. Er war ihr Lehrer gewesen...

30.10.2007 Geheime Reise nach Karma Gön
Karma Gön liegt in einem streng bewachten Gebiet und wir mussten uns heimlich hineinschleichen, ganz in der Tradition unserer Lamas Hannah und Ole. Ab und zu mussten wir auf der Hinterbank des Jeeps in Deckung gehen, damit niemand unsere weißen Gesichter sah.

Wir erreichten Karma Gön am Vollmondtag. Es war ein überwältigendes Gefühl, dort zu sein. Alle Karmapas, vom ersten bis hin zum großen 16. Karmapa, hatten dort gelebt und gelehrt. Zu unserer Freude konnten sich die Mönchen noch an einen weißen Mann erinnern, "von dem es hieß, er sei ein großer Lama" - damit war Ole gemeint. Der ungewöhnliche Westler hätte die Menschen mit einem großen Gau gesegnet, der mit Reliquien gefüllt war, die er von Rigpe Dorje bekommen hat. Er hätte ihnen einige seiner Reliquien gegeben, damit sie die große Shakyamuni-Statue damit füllen konnten.

Das Kloster war vom 1. Karmapa Düsum Khyenpa gegründet worden und galt als Kraftfeld von "Höchster Freude" und "Roter Weisheit". Voller Freude entdeckten wir den großen Stupa, der mit den Reliquien von Karma Pakshi gefüllt war. Er war so alt, dass er vermutlich nur noch vom Segen zusammengehalten wurde. Der Haupt-Lhakang war noch das Originalgebäude, das Düsum Khyenpa als Unterkunft für seine Schüler hatte erbauen lassen. In der Mitte des Geländes befand sich eine idyllische Wiese, umgeben von Weidenbäumen, deren Setzlinge der 2. Karmapa Karma Pakshi aus China mitgebracht hatte. An genau dieser Stelle hatten alle Karmapas die Kronenzeremonie abgehalten! Sie hatten auf einem nun verwitterten Thron aus Lehm und Holz gesessen, dessen Dach nun von Gras bedeckt war.

05.11.2007 Geburtsort des 16. Karmapa
Denkhog ist der Geburtsort des 16. Karmapa. Der Palast des Athub-Clans war erst vor kurzem nach den alten Plänen wiedererrichtet worden. Da er jedoch nicht mehr als ein Museum war, beschlossen wir, einen lebenden Zeitzeugen für die Lebensgeschichte der Athub-Nachfahren zu finden. Wir trafen Künsang Paldrön, deren Großeltern den Athub-Grundbesitz zu Zeiten des 16. Karmapa Rigpe Dorje verwalteten. Obwohl sie anfangs zögerte, mit uns zu sprechen, verlor sie jegliches Misstrauen, als sie die Bilder von unserem Laienbuddhismus im Westen sah. Ihre Familie unterstützt Karmapa Thaye Dorje - eine absolute Ausnahme in Tibet! - aufgrund der Verbindung mit Shamar Rinpoche, der ebenfalls ein Angehöriger der Athubs ist. Sie konnte ihre Rührung kaum verbergen, als sie die Fotos von Shamarpa und Jigmela im Erwachsenenalter sah.

Die Familie Athub war eine Sippe von adeligen Herrschern und in den letzten Generationen eine regelrechte "Tulku-Fabrik". Sieben von zehn Kindern der Eltern des 16. Karmapa wurden wichtige Lehrer. Eine von Karmapas Schwestern erlangte in einem chinesischen Gefängnis den Regenbogenkörper.

Künsang Paldrön führte uns zum Hügel oberhalb des Athub-Palastes, dorthin, wo der 16. Karmapa geboren worden war. Vom Geburtsort-Stupa aus kann man fünf höher gelegene Retreatzentren sehen. Eines dieser Zentren wurde von der Athub-Familie genutzt. Dort trafen wir einen Meditationslehrer, der uns etwas Erstaunliches mitteilte. Die Karma-Kagyü-Schule ist nicht nur für die Schwarze und die Rote Krone berühmt, sondern auch für die Weiße und die Grüne Krone! Der Brauch, die Weiße und die Grüne Krone zu zeigen, geht zurück auf den 14. Karmapa Thegchok Dorje, der diese besonderen Kopfbedeckungen zwei Yogis verlieh, deren spirituelle Verwirklichung seiner eigenen gleich kam.

05.11.2007: Der gehörnte Lama
Chagra Tulku von Jyekundo hatte uns eingeladen, relativ neu entstandene Reliquien zu besichtigen. Ein Yogi hatte sein ganzes Leben lang in Zurückziehung verbracht und galt als Ausstrahlung des kraftvoll-schützenden Yidams, Dorje Jigje, der Stierhörner hat. Der Beweis für seine Verwirklichung zeigte sich, als man seine Leiche verbrannte - sein Schädel zeigte ganz deutlich zwei etwa sieben cm lange Hörner. Er blieb im strengen Retreat, zog von Höhle zu Höhle und nahm keine Schüler an. Damit war er ein "geheimer Yogi", der sein ganzes Leben der Praxis widmet und wenn er seine Erfahrung mit anderen teilte, handelte er nicht wie ein konventioneller Lehrer.

10.11.2007 Tsadra Rinchen Drak
Palpung (Der "Ruhmreiche Hügel") war Sitz der Tai Situpas und er lag wegen des von Jamgön Kongtrul des Großen gegründet Retreatzentrums auf unserer Reiseroute. Die Meditationsschule von Tsadra Rinchen Drak war Heimat vieler großer Yogis und ein weiterer von Guru Rinpoches wichtigen Kraftplätzen. Der älteste der Tsadra-Retreatmeister war 99 Jahre alt. Er konnte sich nicht nur an den 16. Karmapa, sondern auch an den 15. Karmapa und dessen Sohn, den 2. Kongtrul, erinnern. Da er weder hören noch sehen konnte, war unsere Begegnung eine jenseits von Worten.

Tsadra selbst ist wunderschön und liegt inmitten von einem Nadelwald. Hier hat Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye den größten Teil seines Lebens in Zurückziehung und mit Lesen und dem Schaffen seiner Werke verbracht. Die Meditationsschule bestand aus 25 Menschen im Drei-Jahres-Retreat und war für Außenstehende nicht zugänglich. Allerdings lud uns der freundliche Hausmeister auf einen Tee und einen Plausch ein. Wir waren sehr erfreut, als wir feststellten, dass Tsadra, immer noch die Größe der Kongtrul ausstrahlte. In Kongtruls ehemaligem Zimmer konnte man seine Anwesenheit geradezu spüren. Der Schrein im Zimmer beinhaltete eine wertvolle Reliquie: ein Felsstück, auf dem der 14. Karmapa seinen Fußabdruck hinterlassen hatte. Als wir Tsadra verließen, konnten wir die Erfahrung machen, dass nicht alle der Gastgeber unpolitisch waren - einer der Bauarbeiter rief uns hinterher: "Ihr Shamarpa-Leute!" - aber das sind wir ja auch...

11.11.2007 Die Buddha Dakini
Heute hatten wir das Glück, einige Stunden mit einer bemerkenswerten Frau verbringen zu dürfen. Sangye Khandro ist in der Derge Region für ihre Orakel und andere Dharma- und Wohltätigkeitsarbeit bekannt - die einzige laienbuddhistische Profi-Praktizierende, der wir hier begegneten.

Sie ist eine zierliche Frau in ihren Vierzigern und lebt mit ihren drei Töchtern in einem einfachen Holzhaus. Auf der Veranda ihrer Hütte stehen für gewöhnlich Menschen Schlange, um sie um Rat zu fragen. Sangye Khandro redete wie ein Wasserfall und war somit das genaue Gegenteil von unserer Hannah, die häufig nur kurze Antworten im Stil von "Ja, richtig" gegeben hatte.

Im Alter von zwei Jahren war sie vierzig Tage lang im Koma gelegen. Während dieser Zeit hatte sie starke Visionen, die in ihr den Wunsch weckten, anderen Wesen zu nutzen und sich der Praxis von Guru Rinpoche zu widmen. Sie hatte später neun Jahre in den Bergen gelebt und einmal gesehen, wie Padmasambhava höchstpersönlich als ein alter Mann in ihre Retreathütte trat. Er hatte sie gefragt: "Erkennst du mich nicht?" und vor der Yogini seinen knochigen Körper mit dem vorstehenden Brustkorb entblößt und gesagt: "Wenn du praktizierst, dann praktiziere so". Daraus  hatte die Khandro gefolgert, dass sie vermutlich nicht hart genug praktizierte und so band sie ihr langes Haar an einen Nagel, der aus der Decke über ihr herausstand. Die folgenden drei Jahre hatte sie in aufrechter Position meditiert, ohne ihrem Kopf auch nur einen Moment Ruhe zu gönnen. Zu einem späteren Zeitpunkt in ihrem Leben hatte sie ihren Lehrer gefragt, wie sie anderen nutzen könnte, und er hatte ihr geraten, keine Nonnengelübde abzulegen, sondern in ihr Dorf zurückzugehen und den Menschen dort zu helfen.

20.11.2007: Der verrückte Yogi vom See
In der Derge Region lebt ein als "Dorgyal der Verwirklicher" bekannter exzentrischer Yogi. Ein berühmter Trekkingweg am Yilhun Lhatso See führt zu seiner Hütte. Der Lama hatte Gepäck- Pferde für uns organisiert und wir bewunderten die schöne und auch ein wenig surreal anmutende Landschaft. Es heißt, dass der azurblaue Gletschersee ein Kraftplatz von "Roter Weisheit" ist und die ihn umgebenden Berge das Mandala von "Höchster Freude".

Der Yogi hatte langes, verfilztes Haar, eine äußerst lebendige Ausdrucksweise und war trotz der kalten Jahreszeit barfuß. Vor 28 Jahren, als er sein Einzelretreat am Gletscher begonnen hatte, hatte er aufgehört, Schuhe zu tragen. Er war 64, sprühte vor Energie wie unser Lama und war häufig von Schülern, neugierigen Trekkern und Journalisten umgeben. Lama Dorgyals Meditationspraxis war mitgefühls-betont und er arbeitete auch mit vielen Buddha-Aspekten, wie der Dakini Khachoma und der Sichtweise der "Großen Vervollkommnung" (Tib. Dzogchen). Außerdem besaß er offensichtlich große Erfahrung mit Energiepraxis. Seine Offenheit uns gegenüber war einfach rührend. Wir diskutierten über die Praxis, den Sinn des Lebens, die höchste Sichtweise und über Idealismus. Lama Dorgyal gefiel unsere Kritikfreudigkeit und wir bewunderten ihn dafür, dass er die Punkte zugab, an denen er auch noch zu lernen hatte. Er war ein echter Exzentriker, wechselte von verrücktem Gelächter zu Freudentränen oder überschwänglicher Körpersprache. Als er Fotos von Ole und Hannah sah, war er gerührt und wollte sie behalten. Nach seiner Überzeugung sind sie echte Tulkus und wichtige Lehrer.

Die Nächte bei Lama Dorgyal waren bei -7 Grad Celsius im Zelt bitterkalt. Zwei junge Mönche lebten bei ihm um die Übertragung zur "Inneren Hitze" zu erhalten. In der Morgendämmerung saßen sie nackt im Fluss, schütteten sich eisiges Wasser über die Köpfe und konzentrierten sich dabei auf die Bewegung der inneren Energien in ihren Körpern, um dadurch Freude und Wärme zu erzeugen.

01.12.2007 Die Dharma Siedlungen
Von Khenpo Achung heißt es, er sei der wichtigste derzeit lebende Nyingma-Meister in Tibet. In seinem Kloster wohnen etwa 9000 Menschen unter erstaunlichen Bedingungen, nur um ihrem Lama nah zu sein: Das Gelände erinnerte uns an den Film "Mad Max" - lange Reihen von Slums, gebaut aus allem, was auch nur irgendwie zusammenhält und umkreist von hungrigen Hunden.

Khenpo Achung sah aus wie Lopön Tsechu, allerdings war seine Schwingung strenger. Er sagte zu uns: "Mich interessiert die Geschichte des Buddhismus im Westen nicht. Ich will Resultate sehen." Sein Assistent zeigte uns Fotos von Achung Khenpo. Sie wären nur gewöhnliche Souvenirs gewesen, hatten allerdings ein besonderes Detail: Man konnte auf der Stirn des Lamas die Bilder aller möglichen Buddhas erkennen, als sei sie ein gemaltes Rollbild.

Jigme Phuntsok Rinpoche, Khenpo Achungs Lehrer, hatte das gigantische Retreatzentrum und Kloster Serta Larung gegründet. Niemand konnte uns die genaue Zahl der Mönche und Nonnen nennen, aber wir schätzten sie auf ca. 15000 bis 20000. Der wenige Jahre zuvor verstorbene Khenpo Phuntsok hatte lange Zeit hart gearbeitet, um diese riesige Dharmainstitution im Herzen des besetzten Tibet aufzubauen. Es war ihm gelungen und weil er großes politisches Gewicht hatte, konnten ihn die Autoritäten vor Ort nicht aufhalten. Kurz nach dem Tod des Khenpos kamen allerdings die Chinesen mit ihren Bulldozern und machten einen großen Teil der Siedlung dem Erdboden gleich.

In ein paar Tagen sind wir schon wieder zu Hause. Kham wird ein unvergessliches Erlebnis und Segen als auch Inspiration für uns bleiben.


Magdalena Maria Przyjemska
Die Danzigerin Maria Przyjemska, Jahrgang 1975, lebte acht Jahre lang in Berlin. Sie nahm 1994 Zuflucht und ist seit 2007 Reiselehrerin. Maria ist Mitarbeiterin beim ITAS in Karma Gön und arbeitet momentan an ihrer Doktorarbeit in Tibetologie.