Am 16. und 17. März 2001 wurde in Kathmandu, Nepal, eine Internationale Karma Kagyü Konferenz abgehalten. Die teilnehmenden Delegierten repräsentierten über 500 Klöster und Zentren der Karma-Kagyü-Linie in der Welt. Die Konferenz wurde ausdrücklich einberufen, um die gegenwärtige Krise in der Karma-Kagyü-Linie anzusprechen. Es wurde eine einmütige Resolution verabschiedet, die die Bestimmtheit unserer Schule zum Ausdruck bringt, jegliche Einmischung von außen in die Karma-Kagyü-Linie bezüglich des Prozesses der Anerkennung und Inthronisation des Karmapa abzulehnen und die authentischen Übertragungen der Karma-Kagyü-Linie zu schützen.
Das Herz der Existenz der Karma-Kagyü-Linie ist ihr grundsätzliches Recht auf die Anerkennung des Karmapa, das spirituelle Oberhaupt der Linie. Dies muss in Übereinstimmung mit den echten, spirituellen Gepflogenheiten der Karma-Kagyü-Linie geschehen, und ohne Einmischung von ausserhalb der Linie. Traditionell haben der Schwarz-Hut- und der Rot-Hut-Karmapa jeweils gegenseitig ihre Wiedergeburten erkannt und inthronisiert.
Die Geschichte zeigt, dass die gegenwärtige Krise ihre Wurzeln in der Vergangenheit hat. Über Jahrhunderte waren die Gelugpa-Linie der Dalai Lamas und die Karma-Kagyü-Linie der Gyalwa Karmapas in Streit verwickelt.
Der Konflikt begann schon im 15. Jahrhundert, zur Zeit des 7. Karmapa und 4. Shamarpa. Dies fiel in eine Zeit, in der die Regierung Tibets von den Kagyüpas kontrolliert wurde. 1638 erreichten die Feindseligkeiten einen Höhepunkt, als der 5. Dalai Lama die mongolische Armee unter Goshir Khan zur Invasion Tibets einlud. Die Allianz der Gelugpas und der Mongolen war im Anschluss verantwortlich für den Tod durch Enthauptung von praktisch allen Äbten von 1000 Karma-Kagyü-Klöstern. All diese Klöster wurden mit Gewalt zum Gelugpa-Orden konvertiert. Das Lager des 10. Karmapa wurde angegriffen und über 7000 seiner Mönche abgeschlachtet. Nur Karmapa und seinem Diener gelang die Flucht. Karmapa war gezwungen die nächsten 40 Jahre im Exil zu verbringen.
Zwei Jahrhunderte später eskalierte der Streit weiter, während der Regentschaftsperiode zwischen dem 7. und dem 8. Dalai Lama. Der Gelugpa-Minister Tenpe Gönpo ergriff die Gelegenheit, Shamar Rinpoche dauerhaft von der religiösen Bühne Tibets zu entfernen. Obwohl dieser im Krieg zwischen Nepal und Tibet/China vermittelt hatte, erklärte ihn der Ching-Kaiser von China zum Verräter und all seine Klöster wurden gewaltsam zum Gelugpa-Orden konvertiert. Es wurde ein Edikt erlassen, das die zukünftigen Wiedergeburten Shamarpas verbot.
1959 kam das Ende Tibets durch die Kommunisten. Leider war wohl selbst Tibets Zerstörung noch nicht katastrophal genug, um die lang anhaltenden und ungerechtfertigen Aggressionen der Gelugpa-Schule gegen Karmapa und die Karma Kagyü beizulegen.
1961 schlug die Tibetische Exilregierung vor, die vier tibetischen Schulen zu einer einzigen religiösen Körperschaft, der Eure Heiligkeit vorstehen sollte, zusammenzuschließen. Diese Politik brachte einem großen Teil der tibetischen Exilgemeinschaft ernsthaftes spirituelles Leiden. 13 tibetische Siedlungen schlossen sich unter Karmapas Autorität zusammen und wehrten sich gegen den Plan der Exilregierung. Infolgedessen wurde das ganz Vorhaben aufgegeben. Später, in den 70er Jahren, wurde es Karmapa vorgeworfen, dass er entschieden hatte, die Autonomie der drei anderen Linien zu verteidigen.
Die aggressive Atmosphäre, die sich in dieser Zeit gebildet hatte, führte zu Jubel-Feiern in den tibetischen Lagern in Ladakh als S.H. der 16. Karmapa 1981 starb. Dieses schmerzliche Ereignis fachte das Misstrauen zwischen den beiden Schulen weiter an.
Noch vor dem Tod des 16. Karmapa kamen Mitglieder des Kreises um Eure Heiligkeit schon auf bestimmte hohe Kagyü-Lamas zu und boten ihnen Kollaboration bei der Suche und Anerkennung des 17. Karmapa an. In enger Zusammenarbeit mit dieser verräterischen Kagyü-Gruppe, gelang es Eurer Heiligkeit zum ersten Mal in der Geschichte, unsere Schule zu spalten. Dieses Komplott führte in Folge zu der Inthronisation eines falschen Karmapa in China.
1992 und 1993 unterstützte Eure Heiligkeit absichtlich die falschen Ansprüche und Handlungen dieser Gruppe von korrupten Kagyü-Lamas. Diese Einmischung ist für die Karma-Kagyü-Schule absolut unannehmbar.
Im Juli des Jahres 2000 ging die Verwicklung Eurer Heiligkeit in diese Angelegenheit noch weiter. Eure Heiligkeit informierte Seine Heiligkeit Shamar Rinpoche schriftlich, dass selbst wenn eine authentische Prophezeiung des 16. Karmapa gefunden und vorgestellt würde, dies nichts daran ändern würde, dass Eure Heiligkeit auf Urgyen Trinle als den Thron-haltenden Karmapa bestehen würde. Damit würde Eure Heiligkeit den unbestrittenen 16. Karmapa im nachhinein seines Rechtes auf die Bestimmung seiner eigenen Wiedergeburt berauben. Solche absurden Ansprüche gehen gegen die Karma-Kagyü-Tradition und bereiten die Bühne vor für die Übernahme der Karma-Kagyü-Schule durch die Schule und die Regierung Eurer Heiligkeit.
Bis zu der Einmischung Eurer Heiligkeit im Jahre 1992 hat niemals ein anderer Dalai Lama bei der Anerkennung eines echten Karmapa eine Rolle gespielt. Wie Eure Heiligkeit sehr wohl weiß, gingen die Karmapa-Inkarnationen der Dalai-Lama-Linie um mehr als 300 Jahre voraus. Es gibt keinen historischen Präzedenzfall für die derzeitige Einmischung Eurer Heiligkeit.
Wir haben großen Respekt für den Kampf Eurer Heiligkeit um das Wohlergehen und die Freiheit des tibetischen Volkes und unterstützen ihn. Deswegen bitten wir darum, denselben guten Willen in der Angelegenheit der Karmapa-Kontroverse anzuwenden. Im Sinne der Unversehrtheit unserer Linie, bitten wir Eure Heiligkeit eindringlich, sich taktvoll aus diesem internen Konflikt der Karma-Kagyü-Schule herauszuziehen. Wir erbitten auch die Unterstützung Eurer Heiligkeit hinsichtlich unserer Sicht, dass die ganze Welt Nutzen davon haben wird, wenn die reiche Vielfalt aller vier Schulen, einschließlich der Karma Kagyü, bewahrt bleibt.
Wir machen mit Hochachtung Wünsche für das lange Leben und die weitere Gesundheit Eurer Heiligkeit.
Die Delegierten der Internationalen Karma Kagyü Konferenz
Kathmandu, 17. März 2001
(aus dem Englischen: Detlev Göbel)