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BUDDHISMUS HEUTE
Aus: Buddhismus Heute Nr. 31, ( 2000)

Die Zwischenzustände, Teil 3: Der Bardo des klaren Lichts

Von Lopön Tsechu Rinpoche

Der dritte Zwischenzustand ist der "Bardo des Klaren Lichtes", auch "Bardo des Dharmata" genannt. Er beginnt in dem Moment, wo die Weiße Essenz und die Rote Essenz (siehe Erklärungen dazu im letzen Heft) im Herz-Zentrum des Verstorbenen zusammengekommen sind, zirka 20 Minuten nach dem letzten Atemzug.

In diesem Augenblick zeigt sich bei jedem Wesen die wahre Natur des Geistes. Sie hat verschiedene Namen in den unterschiedlichen buddhistischen Lehren und Traditionen, ob in der Prajna-Paramita, dem Mahamudra oder anderen Schulen. Manchmal heißt sie "Zugleich entstehende Weisheit des Geistes", ein andermal "Große Freude des Geistes" - es ist ein ungeschaffener, natürlicher, ungekünstelter Zustand des Geistes, wo es kein Entstehen, Bestehen und Vergehen gibt.

Diese wahre und absolute Natur des Geistes wird sich zu dieser Zeit in jedem Wesen manifestieren, denn sie hat damit zu tun, dass jedes Wesen die Buddha-Natur, das Potenzial für Erleuchtung, hat. Der Grund dafür, dass wir das nicht erkennen, liegt nur in unseren eigenen Schleiern, die wir aufgrund von Karma und unseren Störgefühlen angesammelt haben. Sie verhindern jetzt, dass wir das Potenzial unseres Geistes tatsächlich erleben. Wenn dieses Potenzial aber nicht schon in allen Wesen inhärent vorhanden wäre, könnte man gar keine Erleuchtung erlangen. Zur Zeit dieses dritten Bardos zeigt es sich tatsächlich und man kann es erleben. Im Text von Tsele Natsog Rangdröl werden viele verschiedene Erklärungen dazu gegeben, aber dies ist die grundsätzliche Bedeutung davon.

Das Absteigen der Weißen Essenz des Vaters im Körper wird mit verschiedenen Begriffen bezeichnet, hier mit Nang (Erscheinung). Das Aufsteigen der Roten Essenz der Mutter wird Ched (Zunahme) genannt. Wenn die beiden sich im Herz-Zentrum treffen, ist dies die Untrennbarkeit von männlich und weiblich - "Mittel", die Große Freude, und "Weisheit", die Leerheit. Das Zusammenkommen der beiden wird Thob (Erlangen) genannt, es ist die Weise wie der Geist ist, er hat diese beiden untrennbaren Qualitäten, Freude und Leerheit.

Oft wird es in der Weise beschrieben, dass das ursprüngliche Klare Licht, die wahre Natur des Geistes, wie die "Mutter" ist. Der "Sohn" ist dann unser Verständnis vom Geist, das wir in unserer Praxis geübt und erfahren haben. In diesem Moment des dritten Bardo ist es so, wie wenn sich Mutter und Sohn begegnen, und wir erkennen das, worauf wir die ganze Zeit meditiert haben. Es ist dann tatsächlich da und wir identifizieren uns damit. Das ist aber nur möglich, wenn wir es schon im Leben geübt haben. Sonst kann man das Potenzial nicht erkennen, wenn es sich zeigt. Die meisten Wesen nehmen es überhaupt nicht wahr, sie fallen erstmal in Ohnmacht und dann beginnt das Umherwandern im Zwischenzustand.

Einige Praktizierende - Realisierte wie große Lamas aber auch einige einfach gut Praktizierende - bleiben in Meditation wenn der Körper gestorben ist. Das bedeutet, dass sie ihren Geist verstanden haben und darin verweilen. Bei einigen dauert das einen, zwei oder drei Tage, und es ist wichtig, sie nicht zu stören. Es wird ein Zeichen geben, wenn sie wirklich weitergegangen sind, weil es in diesem Körper nichts mehr zu tun gibt. Wenn man sich auskennt, kann man danach schauen. Es zeigt sich bei den meisten Wesen, aber in dem Fall wo jemand nach dem Tod in Meditation sitzt, kann man es natürlich sehr deutlich sehen. Aus dem rechten Nasenloch kann etwas weiße Flüssigkeit kommen und aus dem linken manchmal einige rote Tropfen. Sie können aber auch aus einer der unteren Körperöffnungen austreten. Diese Flüssigkeiten hängen zusammen mit der männlichen und der weiblichen Essenz, die bei der Empfängnis mit dem Samen des Vaters und dem Ei der Mutter und unserem Bewusstsein zusammenkamen. Unser Körper fing infolgedessen zu wachsen an und beim Tod verlassen sie ihn wieder in dieser Form.

Aus diesem Grunde ist es gut, den Körper in Ruhe zu lassen, bis jemand wirklich vollständig gestorben ist. Bei der Gewohnheit der Hindus, den Leichnam sofort zu verbrennen, ist es nicht möglich, die Todeszeichen zu überprüfen. Auch bei einem Unfall ist das nicht so leicht, denn da geht der ganze Prozess so schnell, daß die Zeichen unter Umständen nicht so offensichtlich sind. Wenn der Tod aber natürlich eintritt und man die Möglichkeit zum Nachschauen hat, kann man sehen, dass es wirklich so geschieht. Normalerweise treten die Zeichen auf, wenn der innere Atem stoppt. Nur im Falle, dass jemand in Meditation ist, kommt es viel später, manchmal erst nach Tagen. Es kann aber unterschiedlich vor sich gehen: Wenn jemand sehr negatives Karma hat, kann es sehr schnell passieren. Erst in dem Moment, wo der innere Atem aufhört, setzt die Verwesung des Körpers ein.

Bei einigen Leuten kommt es auch nicht so deutlich als weiße und rote Substanzen raus, sondern eher nur wie etwas Lymphe. In diesem Moment ist der Bardo des Klaren Lichtes dann beendet. Entsprechend dem eigenen Karma wird man erleuchtet oder befreit und dann von Dakas und Dakinis geleitet, oder man hat - wenn das Karma schlecht ist - sofort schreckenerregende Erfahrungen. Was immer in diesem Moment erlebt wird, sind Eindrücke aus dem eigenen Geist, die sich sehr kraftvoll manifestieren. Wenn man den Geist zu dieser Zeit nicht erkennt, sind die Erfahrungen hier sehr überwältigend. All die potenziellen zornvollen und friedvollen Gottheiten im Körper zeigen sich als Geräusche und Lichter, so stark, dass man damit nicht umgehen kann und ohnmächtig wird.

Zu dieser Zeit wird es uns sehr helfen, wenn wir etwas praktiziert haben. Selbst wenn wir die wahre Natur unseres Geistes noch nicht erkannt, aber immerhin etwas Meditations-Gewohnheit entwickelt haben, wird es uns helfen, wenn wir uns in diesem Moment an unsere Praxis erinnern. Wir werden dann sehen was vor sich geht und es erkennen, statt einfach nur verwirrt zu sein.

Wenn man natürlich in diesem Leben die Phowa-Praxis gemacht und geübt hat, sich daran erinnert, es einsgerichtet anwendet und keine gebrochenen Bände hat, dann kann man seinen Geist im Moment des Todes in ein Reines Land überführen. Diese ganzen beschriebenen Erscheinungen wird man dann nicht erleben; man geht gar nicht erst durch den Zwischenzustand. Wenn man all diese verschiedenen Visionen als das erkennt was sie wirklich sind, kann man zu dieser Zeit Befreiung erlangen. Normalerweise erkennt man sie aber nicht und sie lösen sich wieder auf. Zu dieser Zeit sieht man verschiedene Lichtkreise in den Weisheitsfarben und hat hier wieder die Möglichkeit zur Befreiung, wenn man sich an die Unterweisungen erinnert, denn diese Erscheinungen sind die Weise, wie sich die ursprüngliche Weisheit des Geistes zeigt. Ich möchte hier nicht in all die Details dazu gehen; die Bedeutung von ihnen allen ist: Wenn wir gut meditiert und et-was Praxisgewohnheit entwickelt haben, dann haben wir zu dieser Zeit die Möglichkeit, Befreiung zu erlangen. Wenn nicht, werden wir einfach weiterwandern. Dann hängt es von unserem Karma ab, was geschieht und wir können keinen Einfluss darauf nehmen, denn wir haben keine Kontrolle in diesem Zustand. In diesem Bardo haben wir einen "Geist-Körper" und sehen viele Dinge, denn wir haben übernatürliche Kräfte wie zum Beispiel Klarsicht. Diese Erfahrungen hat jeder in diesem Moment, sie sind kein Resultat von Praxis.

Wir können alles um uns herum wahrnehmen, auch was andere Leute tun. Deswegen kann man den Leuten im Bardo helfen; es ist möglich, Kontakt zu ihnen herzustellen und sie anzuleiten, wenn man an sie denkt. Wenn es Leute sind, die zwar praktiziert haben, aber nicht genug um es allein zu schaffen, kann man sie an die Belehrungen erinnern und ihnen damit helfen, Befreiung zu erlangen. Wenn sie gar nicht praktiziert haben und vielleicht sogar viele negative Dinge getan haben, dann kann man ihnen helfen indem man ihnen sagt, dass sie nun gestorben sind und versuchen sollten zu verstehen, was vor sich geht. Man kann sie anleiten und ihnen zum Beispiel sagen, dass es gut ist, an die Zuflucht zu denken.

In dieser Weise kann man einem Verstorbenen 49 Tage lang nach seinem Tod helfen. Danach ist es schwer, noch etwas zu tun. Es ist sehr gut, im Namen des Verstorbenen Positives zu tun, auch wenn es kein Praktizierender war. Zum Beispiel kann man etwas von dem Geld, das er oder sie hinterlassen hat, für gute Zwecke verwenden und dabei denken, dass man es für ihn tut. Denkt an denjenigen und sagt ihm, was ihr tut und daß er darüber froh sein sollte. In dieser Weise sammelt er in diesem Moment gutes Karma an, was ihm helfen wird. Wenn ein Praktizierender bereits gute Resultate in seiner Praxis hatte, gibt es für ihn im Tod kein Problem, denn alles ist ihm klar. Aber selbst wenn jemand gut praktiziert und das Phowa-Zeichen hatte, kann es sein, dass er beim Sterben sehr verwirrt ist. Man kann ihm dann aus seiner Verwirrung heraushelfen, wenn man ihn ruft und daran erinnert, was zu tun ist.

Wenn man die Erklärungen über all diese Vorgänge im Bardo hört, kann man denken, dass das alles sehr lange dauert. Es geschieht aber tatsächlich in nur einigen Momenten und im ganzen Zwischenzustand ist das Zeit-Gefühl sehr relativ. Es heißt zwar, dass der Zwischenzustand 49 Tage dauert, aber das Gefühl für diese Zeit ist völlig anders als jetzt. Nur Wesen mit viel Erfahrung in der Praxis, die schon bestimmte Stufen von Erkenntnis erlangt haben, können den Moment des Klaren Lichtes verlängern und darin verweilen. Für gewöhnliche Wesen dauert das alles nur einen Augenblick. Was aber vorkommen kann, ist, dass die Anhaftung an den Körper so stark ist, dass das Bewußtsein länger in ihm bleibt. Das hat dann nichts mit tiefer Meditation oder mit Verwirklichung zu tun, sondern ist einfach Anhaftung an den Körper. Aus diesem Grunde ist es wichtig, vorsichtig zu sein und zu überprüfen, ob die Person wirklich tot ist und der innere Atem wirklich aufgehört hat. Wenn man den Körper vorher schon verbrennt, ist es tatsächlich so, dass man eigentlich jemanden tötet, denn die Person ist noch in dem Körper.

Es gibt viele verschiedene Erklärungsweisen zu dem was zu der Zeit geschieht, manche entsprechend dem Maha-Ati und andere entsprechend dem Mahamudra. Aber worum es bei ihnen allen geht, ist einfach immer nur eine Sache: Die Natur des Geistes zu erkennen.

Es gibt so verschiedene Erklärungen dazu, weil die früheren verwirklichten Meister jeweils eigene Weisen hatten, es darzulegen und darauf zu meditieren. Es sind geschickte Lehrweisen, um die Schüler dahin zu führen, selbst diese Erfahrungen zu machen. Für uns ist es das Wichtigste, dass wir die Zeit im Bardo des Lebens gut nutzen. Wir haben hier die Freiheit zu wählen, was wir mit unserer Zeit machen wollen und können uns vorbereiten und lernen. Das wird uns in allen weiteren Bardos nutzen. Aber wir müssen verstehen, dass es wichtig ist, jetzt die Möglichkeit zu haben, diese Praktiken zu lernen. Im Text werden einige Erklärungen zu den verschiedenen Traditionen gegeben.

Die Große Vervollkommnung (tib.: Dzogchen, skt: Maha Ati) hat ihren Namen daher, dass sie die Essenz all der 84000 Belehrungen Buddhas enthält.

Das Große Siegel (tib.: Tschag gya Tschenpo, skt: Mahamudra) bezieht sich darauf, dass alles die ursprüngliche reine Natur hat, dass nichts von den drei Buddha-Zuständen, den drei Kayas, getrennt ist. Die Basis von allem ist die Leerheit, die wahre Natur der Dinge, und nichts ist von dieser Basis getrennt.

Die Lehren zur Höchsten Einsicht (skt.: Prajna-Paramita) erklären die Wahrheit in der Weise, dass sie jenseits von Konzepten liegt, also mit unseren Vorstellungen nicht erfassbar ist. Man kann über sie nicht in der Weise wie "sie existiert" oder "sie existiert nicht" sprechen.

Eine sehr zentrale Lehre ist auch der Große Mittlere Weg (tib.: Uma Chenpo, skt.: Madhyamaka). Er betont, dass die höchste Wahrheit frei ist von Extremen wie Entstehen, Bestehen und Vergehen. Diese grundlegende Tradition hat sich im Laufe der Zeit in verschiedene Wege entwickelt.

Aber es sind nur unterschiedliche Traditionen, die verschiedene Praktiken und Belehrungen betonen. Die Tradition des Weg und Frucht (tib.: Lamdre) hat ihren Namen daher, dass sie beschreibt, dass die höchste Frucht durch Verwirklichung des Wegs erlangt wird. Eine weitere Tradition beschreibt den Dharma in der Weise, dass es das ist, was die Störgefühle natürlich auflöst (tib.: Shi Je). Was auch immer wir an Störgefühlen haben - durch die Praxis werden sie sich auflösen.

Eine andere Tradition hat mit dem Durchschneiden dualistischer Konzepte zu tun (tib.: Chöd). Dann gibt es auch das Lodjong, das Geistestraining, das uns hilft, uns von unserer Unwissenheit zu befreien.

Diese verschiedenen Traditionen haben unterschiedliche Namen, beziehen sich aber alle auf die gleiche letztendliche Belehrung. Was wir wirklich verstehen müssen, ist, dass all diese verschiedenen Methoden die gleiche Qualität haben, dass sie zum gleichen Resultat führen, wenn man sie praktiziert. Für den Einzelnen ist es nur wichtig herauszufinden, wo er eine Verbindung hat und diese dann zu nutzen.

Ihr solltet euer Leben nicht mit herumexperimentieren verschwenden - nicht erst das eine ausprobieren, dann das andere und so weiter, sozusagen von einer Tradition zur anderen zu hüpfen. Ihr solltet verstehen, dass diese Lehren dazu dienen, eurem Geist zu nutzen, damit ihr bei eurem Tod wisst was zu tun ist. Es geht darum, dass ihr mit dem Zeitpunkt eures Todes umgehen könnt. Konzentriert euch deswegen jetzt auf das was euch entwickelt und nicht nur auf Sachen die interessant zu wissen sind. Natürlich solltet ihr auch etwas lernen und eine Idee davon haben, worum es geht, aber ihr solltet nie vergessen, warum ihr die Lehren eigentlich studiert - nämlich, damit sie eurem Geist nutzen und ihn verändern.

Es gibt ein Beispiel zu der Art, wie man nicht mit den Belehrungen umgehen sollte: Man sollte nicht so sein, wie eine Katze, die Mäuse fängt und sie unter sich sammelt statt sie zu essen. Wenn sie genug gefangen hat und mit dem Essen anfangen will, sind die Mäuse alle schon wieder entkommen. So sollten wir also nicht alle möglichen Dharma-Belehrungen nur sammeln ohne sie anzuwenden. Dann haben wir am Ende gar nichts. Stattdessen sollten wir den Dharma wirklich verwenden, so dass er uns zur Zeit unseres Todes helfen wird. Wie schon gesagt: Es gibt die Verwirklichten, die zur Zeit ihres Todes erleuchtet werden. Für sie muß man kein Phowa machen. Auch die Rituale, wo das Bewusstsein eines Verstorbenen mit seinem Namen angerufen wird und das Papier mit dem Namen dann verbrannt wird, müssen und sollten in diesen Fällen nicht gemacht werden. Wenn ein Meister gestorben ist, haben die Leute die Möglichkeit, viel gutes Karma anzusammeln, wenn sie dabei sind und Opferungen darbringen.

Als der Dharma noch in Indien blühte, gab es große Meister wie Garab Dorje, Shri Singha und andere1. Zu dieser Zeit praktizierten die Menschen sehr ernsthaft die drei Yogas2 und bekamen die Resultate. Viele wurden verwirklicht und lösten sich in Regenbögen auf. Sie erfuhren gar nicht den Bardo, sondern gingen zur Todeszeit direkt in die Erleuchtung. Die Menschen wussten gar nichts davon, dass sie große Meister waren, denn sie übten ihre Praxis im Geheimen und waren nicht dafür berühmt. Als die Lehren Buddhas sich später nach Tibet ausbreitete, war zuerst auch dort diese Art der Diamantweg-Praxis üblich. Die 25 Hauptschüler von Guru Rinpoche und später auch andere waren ernsthaft Praktizierende, die sehr viel meditierten. Sie stellten ihre Praxis aber nicht groß zur Schau, sondern machten sie einfach nur, mit den entsprechenden Resultaten. Im Laufe der Zeit wurde der Stil dann immer oberflächlicher. Die Leute sprachen mehr über ihre Praxis und brüsteten sich damit, statt sie wirklich ernsthaft zu üben und die Früchte davon zu bekommen. Sie wollten berühmt oder reich werden, und so verlor die Praxis mehr und mehr an Kraft.

In Indien und in Tibet gab es viele große Verwirklichte, die in der Lage waren, Wunder zu vollbringen. Das geschah aber nicht öffentlich und es war nicht allgemein bekannt. Diejenigen die das konnten, praktizierten in den Berghöhlen. Yeshe Tsogyal beispielsweise setzte ihre Praxis an verschiedenen Stellen fort, nachdem ihr Lehrer Guru Rinpoche fortgegangen war. Sie praktizierte zum Beispiel auch in verschiedenen Höhlen in Nepal. Einmal kam sie an der Ost-Seite des Kathmandu-Tals am Haus einer sehr reichen Familie entlang. Der einzige Sohn der Familie war soeben verstorben und die Eltern waren so unglücklich darüber, daß sie auch fast starben. Sie konnten sich nicht von dem Leichnam trennen, so dass er immer noch da lag, als Yeshe Tsogyal dorthin kam. Sie ging zu der Leiche des Jungen, segnete sie und brachte ihn tatsächlich wieder zum Leben. Nur zu verkünden, dass man zum Beispiel ein großer Dzogchen- oder Mahamudra-Praktizierender ist, ohne es wirklich zu sein, ist absolut ohne Nutzen. Es hat auch keinen Sinn, damit anzugeben, dass man diese oder jene hohe Belehrung kennt, wenn man ihr nicht folgt. Man kann viel über den Dharma lernen, aber wenn man es nicht in den eigenen Geist integriert, hat es keinen Nutzen.

Der Garuda3 wird als Beispiel dafür erwähnt, wie man an den Dharma herangehen sollte: Es heißt, dass sich der junge Garuda noch im Ei vollständig entwickelt. In dem Moment wo die Schale des Ei zerbricht, ist er schon voll fähig, in den Himmel hoch zu fliegen. So sollten wir den Dharma üben: Wir sollten dieses Leben nutzen, wirklich praktizieren, lernen und Erfahrung und Verständnis entwickeln. Zur Zeit des Todes dann, werden wir fähig sein, "in den Raum zu fliegen" und werden dann Befreiung erlangen.

Wenn man die Belehrungen in diesem Leben verwendet und die Erfahrungen gemacht hat, ist es möglich, all unsere verschiedenen Einengungen und Begrenzungen zu überwinden. Im Text von Tsele Natsok Rangdröl wird hier eine bestimmte Terminologie verwendet: Er spricht von "Acht Toren" und von Methoden, wie man diese Acht nutzen kann, um Erleuchtung zu erlangen. Man kann sie durch die Praxis auflösen, so dass sie Ursachen für Erleuchtung werden. Was für uns zählt ist, dass jedes fühlende Wesen das Potenzial für Erleuchtung, die Buddha-Natur, hat. Das wird illustriert durch das Beispiel einer armen Familie, die in einer Hütte mit einem verborgenem Schatz darunter lebt. Wenn sie von dem Schatz wüssten, wäre ihr Leben völlig verändert. Sie könnten für einige Zeit ihr Leben genießen und etwas Glück haben. Wenn sie aber nichts davon erfahren, geschieht nichts weiter - sie bleiben arm und leiden.

Ein anderes Beispiel ist das Entfernen einer Schmutzschicht auf Gold oder Diamanten. Zuerst sieht man gar nicht, was darunter liegt. Es sieht sehr gewöhnlich aus und erst wenn man durch die ganze Reinigung gegangen ist, kommt das Gold oder der Diamant hervor.

In derselben Weise haben wir zwar alle die Buddha-Natur, wissen es aber nicht und haben deswegen jetzt keinen Nutzen davon. Der ganze Dharma dreht sich darum, dass wir uns mit dieser Buddha-Natur vertraut machen und sie schließlich auch erfahren. Unsere Praxis dient dazu, die Schleier zu entfernen, die uns daran hindern, unsere Buddha-Natur zu erkennen. Das ist es worum es geht, ob wir unsere Grundübungen machen - die Verbeugungen, Diamantgeist, die Mandala-Schenkungen und das Guru-Yoga - oder auf einen Buddha-Aspekt meditieren oder Nyungneh machen, oder auch wenn wir eine Arbeit im Dharma machen.

Wir sollten ständig versuchen, diese Wahrheit zu begreifen. In welchem der Vier Bardos wir auch gerade sind - wenn wir die Buddha-Natur erfassen können, bringt uns das durch. Dies sollten wir ständig üben: Zu verstehen was unser Geist ist - darum dreht sich alles.

1 Frühe Meister aus der Nyingma-Linie, die im Text erwähnt werden.

2 Terminologie aus der Nyingma-Linie: Maha-, Anu- und Ati-Yoga, in etwa vergleichbar mit Vater-, Mutter- und Nicht-Dualem Tantra.

3 Mythologischer Vogel, der sofort nach dem Ausschlüpfen fliegen kann.


(Aus dem Tibetischen ins Englische von Hannah Nydahl, ins Deutsche von Detlev Göbel)

Lopön Tsechu Rinpoche wurde 1918 in Bhutan geboren. Mit 13 Jahren ging er mit seinem Onkel und geistigen Lehrer Drukpa Rinpoche Sherab Lama nach Nepal, um dort zu studieren und zu meditieren. Rinpoche erhielt eine vollständige buddhistische Ausbildung und meditierte unter oft härtesten Bedingungen in den Höhlen Milarepas und den heiligen Stellen Guru Rinpoches. 1944 traf er den 16. Karmapa in Bhutan. Karmapa wurde einer seiner wichtigsten Lehrer und er erhielt von ihm die Lehren und Übertragungen der Kagyü-Linie. In den folgenden Jahren wurde Rinpoche sehr wichtig für die Buddhisten in Nepal. Aufgrund seiner jahrzehntelangen großen Aktivität dort gilt Rinpoche als eine Schlüsselfigur für den Zusammenhalt der unterschiedlichen buddhistischen Gemeinschaften in Nepal. 1987 besuchte er auf Einladung seiner ersten westlichen Schüler und engen Freunde Lama Ole Nydahl und Hannah Nydahl zum ersten Mal Europa. Seitdem reist er viel in West- und Ost-Europa, Nord- und Südamerika und in Australien, gibt Erklärungen und Ermächtigungen in den Karma-Kagyü-Zentren.