Aus: Buddhismus Heute Nr. 21, ( 1996)

Sichtweise und Meditation

Von Manfred Seegers

Um einerseits das volle Potential in uns zu entfalten und andererseits nicht mehr unfreiwillig von unseren Erlebnissen mitgerissen zu werden, ist es notwendig, die Natur unseres eigenen Geistes zu erfahren, den Erleber selbst. Alles andere bedeutet, nur die Bilder im Spiegel des Geistes auszutauschen. Allein die Erfahrung des Spiegels selbst, der Natur des Geistes, ermöglicht es, Befreiung und Erleuchtung zu erreichen. Diese Erfahrung ist das Ziel jeder Beschäftigung mit dem Dharma. Der Begriff Dharma bedeutet ja wie die Dinge sind und das Ziel von Buddhas Lehre ist allein diese unmittelbare und ungetäuschte Erfahrung der Wirklichkeit.

Zwei Standbeine

Ob man nun den Dharma studiert oder darüber meditiert, ob man immer mehr Zusammenhänge versteht oder das, was man gelernt hat, in der Meditation anwendet, es betrifft ja immer das eigene Verständnis. Es geht darum, daß man die Dinge mehr und mehr begreift, nachvollzieht und zu einer unmittelbaren Erfahrung macht. Daher sagte Topga Rinpoche beim Studienkurs in Dhagpo Kagyü Ling/ Frankreich: "Man braucht beide Standbeine, das Standbein des Studiums, des Lernens, denn wenn man nicht weiß, worum es geht, worüber soll man dann meditieren? Und man braucht unbedingt das Standbein der Meditation, denn wenn man nicht meditiert, wofür sollte man dann studieren?" Es geht also darum diese beiden Aspekte miteinander zu vereinen, weil sie beide notwendig sind, um eine echte Erfahrung zu ermöglichen.

Die richtige Sichtweise ist die Grundlage für jede Meditationspraxis, aber in den Anweisungen zur Meditation ist der Teil, der sich mit der Sichtweise beschäftigt, meistens sehr stark abgekürzt. In den Vorbereitenden Übungen zum Beispiel findet man nur jeweils zwei Sätze für jeden der vier grundlegenden Gedanken, die uns auf den Weg zur Erleuchtung führen. Hier wird vorausgesetzt, daß man die notwendigen Informationen schon aus anderen Quellen bekommen hat, zum Beispiel aus dem Kostbaren Schmuck der Befreiung von Gampopa, etc. Das gleiche gilt für die Zufluchtnahme, die Entwicklung des Erleuchtungsgeistes, den eigentlichen Hauptteil der Meditation und die Widmung. Auch hier ist jeweils die richtige Sichtweise die notwendige Grundlage und hilft dabei, Fehler in der Praxis zu vermeiden.

Um die Bedeutung der richtigen Sichtweise für die Meditationspraxis zu zeigen, möchte ich kurz einige Aspekte hervorheben, die direkt mit den einzelnen Teilen der Meditation verbunden sind.

Die vier Gedanken

Die vier grundlegenden Gedanken sind äußerst wichtig, sowohl für die Dharmapraxis als auch für den Alltag. Nur mit einem klaren Verständnis von der eigenen Situation im Kreislauf der Existenz wird man den tiefen Wunsch nach Befreiung von allem Leiden und nach voller Erleuchtung zum Nutzen der Wesen entwickeln. Viele falsche Vorstellungen über das eigene Leben lösen sich auf und man entwickelt tiefes Mitgefühl mit allen Lebewesen im Kreislauf der Existenz. Mit diesem Verständnis wird jede Dharmapraxis sehr kraftvoll. Andererseits kann man sagen, daß der hauptsächliche Grund für Schwierigkeiten mit der Dharmapraxis, zum Beispiel mit den Vorbereitenden Übungen, darin liegt, daß man diese vier grundlegenden Gedanken nicht wirklich verstanden hat.

Ist eine echte Bewußtheit davon vorhanden, wie kostbar diese menschliche Geburt ist, das heißt wieviele spezielle Voraussetzungen dazu nötig sind, dem Dharma überhaupt zu begegnen und und erst recht ihn auch wirklich zu praktizieren, dann entsteht daraus eine starke Motivation für die Praxis. Man erkennt, daß hierzu starke Wünsche aus früherer Zeit und Unmengen an positiven Eindrücken zusammenkommen müssen. Dies führt einen jetzt dazu, das eigene Leben sinnvoll nutzen zu können und man nimmt sich vor, diese phantastische Gelegenheit nicht zu verschwenden.

Ebenso wirkt sich ein tiefes Verständnis von den groben und subtilen Aspekten der Vergänglichkeit auf die Dharmapraxis aus. Man weiß niemals, wieviel Zeit einem bleibt, um die Natur des eigenen Geistes zu erkennen und wird deshalb mit Fleiß praktizieren. Vergänglichkeit bedeutet aber auch, daß alle Probleme und Schwierigkeiten vorbeigehen und daß durch die Praxis eine völlige Veränderung zu stabilem Glück hin in unserem Geist möglich ist.

Besonders die wachsende Erkenntnis des subtilen Aspektes der Vergänglichkeit führt zu einem tieferen Verstädnis der Wirklichkeit. Der große indische Meister Nagarjuna sagt dazu: "Wer den subtilen Aspekt der Vergänglichkeit erkannt hat, kommt sehr nahe an ein Verständnis der Leerheit aller Erscheinungen heran."

Weiterhin ist die richtige Sichtweise in bezug auf Ursache und Wirkung äußerst wichtig. Nur wenn man versteht, daß man früher selbst die Ursachen für die jetzigen Erlebnisse gelegt hat und daß man jetzt ständig Ursachen für zukünftige Erlebnisse legt, kann man die volle Verantwortung für das eigene Leben übernehmen. Durch konsequentes, positives Handeln schafft man die Ursache für bleibendes Glück. Ebenso erkennt man, daß die Handlungen anderer von vielen Ursachen und Bedingungen abhängen. Man nimmt dann schwierige Umstände nicht mehr so persönlich und gleichzeitig führt dies zu einem umfassenderen Verständnis von Ursache und Wirkung, vom Abhängigen Entstehen der Dinge.

Nur ein klares Verständnis vom Abhängigen Entstehen aller Dinge bringt wirkliche Freiheit, denn mit diesem Verständnis kann man selbst entscheiden, was man erleben will und man erkennt gleichzeitig, daß es keinerlei unabhängige oder für sich bestehende, wahrhafte Existenz in den Dingen gibt. Abhängiges Entstehen, das ganze Geflecht von Ursachen, Bedingungen und Wirkungen, sowie die Leerheit von unabhängiger Existenz sind die beiden untrennbaren Merkmale aller Erscheinungen. Erkennt man die Traumhaftigkeit oder Unwirklichkeit der Dinge, dann ist es möglich, vom Schlaf der Unwissenheit zu erwachen und Befreiung und Erleuchtung zu erreichen.

Solange man noch an den Erfahrungen dieses Lebens festhält, hat man die Natur des Kreislaufs der bedingten Existenz nicht wirklich verstanden. In welcher Form und unter welchen Umständen man auch immer in dem einen oder anderen Daseinsbereich wiedergeboren wird, man erlebt überall verschiedene Arten von Leiden und Schwierigkeiten. Selbst die höchsten Freuden in unserem Leben sind im Vergleich zur Befreiung und Erleuchtung reines Leid. Je mehr man versucht, angenehme Erfahrungen festzuhalten, desto stärker ist die Frustration, wenn sie sich doch wieder ändern. Nur die offene, klare Unbegrenztheit des Geistes, der Erleber all der verschiedenen Projektionen im Geist, ist dauerhaft, während sich alle bedingten Zustände ändern. Der Geist ist kein Ding und kann daher nicht zerstört werden. Seine Natur ist höchste Freude und geht über alle Trennungen hinaus. Die unmittelbare Erfahrung der Natur des Geistes ist daher das Einzige, was wirklich Befreiung von allem Leid bedeutet.

Die Zuflucht

Das tibetische Wort für Zuflucht heißt kyab und bedeutet wörtlich Schutz, Schutz vor dem Leiden der bedingten Existenz. Diejenigen, die einen vor allem Leiden schützen können, müssen selbst jenseits vom Leiden sein. Nur dann können sie uns bleibendes Glück bringen. Dies sind die sogenannten Drei Juwelen: Buddha, der erleuchtete Zustand unseres Geistes, Dharma, die Lehren, die uns dahin führen und Sangha, die Freunde und Helfer auf dem Weg. Speziell im tibetischen Buddhismus gibt es darüber hinaus noch eine vierte Zuflucht, den Lama, der Segen, Mittel und Schutz in sich vereint.

Hier lohnt es sich, mehr über die Qualitäten der Zuflucht zu erfahren, um echtes Vertrauen entwickeln und sich für die Zuflucht öffnen zu können. Dies Vertrauen sollte ja niemals blind sein, sondern auf einer tiefen Überzeugung von den Qualitäten der Zuflucht beruhen, die es einem ermöglichen, Befreiung und Erleuchtung zu erreichen. Außer im Kostbaren Schmuck der Befreiung von Gampopa kann man auch in vielen anderen Dharmabüchern und Texten mehr darüber lernen. Die Quellen sind zum Beispiel das Sutra der Erinnerung an die Drei Juwelen oder der Gyü Lama von Maitreya / Asanga.

Praktiziert man den ersten Teil der Vorbereitenden Übungen, die Verbeugungen, so hat jeder Aspekt im Zufluchtsbaum tiefen Sinn und richtet den Geist auf die Erleuchtung aus. Viele Leute fragen immer wieder, warum denn die Lamas hier in einem Baum sitzen, was sonst eigentlich nicht ihre Gewohnheit ist. Dazu sollte man wissen, daß der Zufluchtsbaum ein wunscherfüllender Baum ist, wie er nach der Mythologie im Bereich der Götter, aber auch im Reinen Land von Buddha Amitabha, Dewachen, zu finden ist. Alle Wünsche, die mit dem Weg zur Erleuchtung zu tun haben, erfüllen sich in der Gegenwart eines solchen Baumes spontan. Eine weitere oft gestellte Frage ist, warum der Baum in einem See steht, obwohl normalerweise keine Bäume im Wasser wachsen. Hier ist die Erklärung, daß der See die reine Natur des eigenen Geistes symbolisiert, die alle Wünsche erfüllt und die perfekten Qualitäten der Erleuchtung enthält.

Der Erleuchtungsgeist

In Verbindung mit der Ausrichtung auf Befreiung und Erleuchtung sollte man eine reine Einstellung entwickeln, eine große Motivation, die auf das Wohl aller Wesen gerichtet ist. Dies ist die Erleuchtete Geisteseinstellung. Auf der Grundlage von Liebe und Mitgefühl wünscht man, so schnell wie möglich Buddhaschaft zu erlangen, um alle Wesen vom Leid zu befreien. Erst wenn man die Natur des eigenen Geistes mehr und mehr erkennt, entfalten sich die Fähigkeiten, anderen in größtem Umfang zu helfen, ganz natürlich. Aber auch schon auf dem Weg dorthin handelt man soviel wie möglich zum Nutzen anderer. Diese Einstellung macht sowohl die Meditationspraxis als auch das Handeln im Alltag sehr kraftvoll. Jede Aktivität wird zur Handlung eines Bodhisattvas und damit zu einem Schritt auf dem Weg zur Erleuchtung.

Hat man eine Verbindung mit dem tibetischen Buddhismus, so kann man die höchste Ebene der Meditation verwenden, die der Buddha gegeben hat, den Diamantweg. Der Hauptteil der Meditation sollte daher eine Praxis des Diamantweges sein. Im Gegensatz zum Sutra-Fahrzeug, bei dem durch analytische Methoden die Ursachen für Erleuchtung aufgebaut werden, identifiziert man sich im Tantra-Fahrzeug, dem Diamantweg, mit den Buddhaeigenschaften im eigenen Geist. Die Grundlage dafür sind alle Belehrungen, die der Buddha beim dritten Drehen des Dharmarades gegeben hat, die Belehrungen über die Buddhanatur in allen fühlenden Wesen.

Die Buddha-Natur

Die Sichtweise ist hier, daß die Natur des Geistes von Anfang an rein ist, und daß die oberflächlichen Schleier, die uns im Augenblick davon abhalten, diese reine Natur unseres Geistes zu erkennen, nicht die Essenz des Geistes selbst betreffen. In den Tantras heißt es daher: "Alle Wesen sind schon Buddhas, auch wenn sie es noch nicht erkannt haben". Die Buddhanatur, ausgestattet mit allen perfekten Eigenschaften der Erleuchtung, ist die reine Natur des Geistes. Der Unterschied zwischen gewöhnlichen Wesen und Buddhas ist nur, ob die Buddhanatur manifestiert ist oder nicht. Die sogenannte "reine Sichtweise" bedeutet daher, alles auf der höchsten Ebene zu sehen, sich auf die Buddhaeigenschaften im eigenen Geist auszurichten und zu erkennen, daß die Natur aller Erscheinungen bereits ursprüngliche Weisheit ist.

Dies erkennt man in der Meditation durch die Identifikation mit dem Lama, den Buddhaaspekten oder Yidams und den Schützern, die jeweils verschiedene Facetten der Erleuchtung zeigen. Der Lama überträgt die mit seiner Verwirklichung verbundene Erfahrung auf uns und gibt uns den Segen für die Praxis. Die Buddhaaspekte drücken die perfekten Qualitäten der Erleuchtung aus, wie zum Beispiel Furchtlosigkeit, Freude, Mitgefühl, Weisheit, usw. und sie lassen gewöhnliche und außergewöhnliche Kräfte in uns entstehen. Die Schützer beseitigen äußere und innere Hindernisse auf dem Weg und führen die spontane Buddhaaktivität zum Nutzen der Wesen aus. Durch die drei Aspekte der Praxis, die "Mudra, Mantra und Samadhi" genannt werden, die aufbauende Phase der Meditation, bei der man sich auf die Form des Buddhas konzentriert, die Mantraphase, bei der der Name des Buddhas, die Schwingung verwendet wird, die äußere und innere Wahrheit miteinander verbindet und die vollendende Phase, bei der man mit dem Geist des Buddhas verschmilzt und untrennbar eins wird, reinigt man jeweils Körper, Rede und Geist von allen oberflächlichen Schleiern.

Reine Sichtweise

Am Ende der Meditation, nachdem man die guten Eindrücke mit allen geteilt hat, ist es wichtig, diese reine Sicht so gut es geht beizubehalten und auch im Alltag alles auf der höchstmöglichen Ebene zu sehen. Alle Wesen sind weibliche oder männliche Buddhas, ob sie es wissen oder nicht. Geräusche sind Mantras und Gedanken sind Weisheit, bloß weil sie geschehen können. Mit dieser Sicht fällt man nicht wieder in die Phantasiewelt der Kindheit zurück, wie einige glauben, sondern man sieht die Dinge so, wie sie sind. Die Dinge sind rein in ihrer Natur. Dies ist der schnellste und direkteste Weg, den der Buddha gelehrt hat. Die Voraussetzung dafür ist Vertrauen zur Natur des eigenen Geistes. Dies Vertrauen wird stabil, wenn man alle Zweifel und Fragen durch ein genaues Untersuchen der Dinge klärt. Dies ist der Grund, warum es eine hochentwickelte buddhistische Philosophie gibt. Hier kann man die Antworten zu allen Fragen bekommen und alle Aspekte einer korrekten Sichtweise trainieren. Aber alle Philosophie im Buddhismus hat nur den einen Zweck, die grundlegende Unwissenheit im Geist zu überwinden und zu einer direkten Erfahrung von der Natur des eigenen Geistes, jenseits von allen Konzepten, zu gelangen.


MANFRED SEEGERS
Nach Abschluss eines 5-jährigen Studiums autorisierter buddhistischer Lehrer. Studierte und lehrte von 1990 - 2000   am KIBI in Neu-Delhi.
Er hält Vorträge und Seminare im In- und Ausland.