Aus: Buddhismus Heute Nr. 21, ( 1996)

Eine "harmlose buddhistische Praxis" ...

Der Hintergrund der aktuellen Angriffe auf Seine Heiligkeit Dalai Lama / Von Detlev Göbel

„Dein Lächeln ist bezaubernd aber deine Taten schaden." Plakate mit solchen Aufschriften zeigten Demonstranten im Juni 1996 vor dem Büro des Office of Tibet in London. Hunderte skandierten Slogans gegen - nein, nicht China, sondern: den Dalai Lama.

Daß der Dalai Lama nicht für die Rolle eines unfehlbaren buddhistischen Papstes taugt, in der manche Westler ihn gerne sähen, wissen wir spätestens, seit er 1992 einen falschen Karmapa anerkannte. Aber: Der Dalai Lama, ein „unbarmherziger Dikator"? Ein „Unterdrücker religiöser Freiheit"? Einer, der „sein Volk mehr unterdrückt als die Chinesen es tun."? Solche Zitate fand zuhauf, wer sich im Frühjahr und Sommer dieses Jahres in den buddhistischen Newsgroups des Internets umsah. Die Vorwürfe erinnerten durch ihre Heftigkeit und mangelnden Stil an die Verleumdungskampagnen gegen Künzig Shamar Rinpoche während der Blütezeiten der Kagyü-Krise.

Angesichts des kurz bevorstehenden Großbritannien-Besuches des Dalai Lama beschäftigen sich mehrere angesehene Zeitungen des Landes (The Guardian, The Independent...) mit dem Thema. Schlagzeilen: „Schlacht der Buddhisten" und „Verleumdungskampagne weckt Sicherheits-Befürchtungen für den Großbritannien-Besuches des Dalai Lama".

Die Ursachen für diese Ereignisse liegen einige hundert Jahre in der Geschichte Tibets zurück. Damals wurde Gelugpa-Lama Dragpa Gyaltsen - ein Zeitgenosse des 5. Dalai Lama - umgebracht. Er hatte starke Wünsche gemacht, als ein Schützer der reinen Gelugpa-Lehren wiedergeboren zu werden. Diese, zusammen mit den schlechten Umständen, unter denen er starb, ließen ihn zu einer Art Dämon werden, der Dorje Shugden, manchmal auch Dolgyal, genannt wurde. Er wurde von den Gelugpas aufgenommen in das Pantheon der weltlichen Schützer.

Anfang unseres Jahrhunderts wurde die Anrufung Shugdens von dem mächtigen Gelugpa-Lama Pabongka Rinpoche (1871 - 1941) verwendet, um insbesondere in Osttibet die Nyingmapas und Kagyüpas zu unterdrücken. Es heißt, daß, wann immer in den Gelugpa-Klöstern dieses Ritual praktiziert wurde, die umliegenden Klöster anderer Schulen bestimmte Praktiken machten, um das Negative wieder einzudämmen. Nach dem Tod des 13. Dalai Lama forderten die Anhänger Pabongkas, daß der Staat sich fortan vor allem auf Shugden als Schützer stützen solle, da die traditionellen Schützer Tibets das Land angeblich verlassen hätten. Es kam zu Unstimmigkeiten zwischen der Regierung und der Gelugpa-Schule.

Schon in der Biographie des 5. Dalai Lama - so erzählt der derzeitige 14. Dalai Lama - wird von Uneinigkeiten zwischen ihm und Dragpa Gyaltsen berichtet. (Das Problem lag vor allem darin begründet, daß der Dalai Lama für den Geschmack einiger orthodoxer Gelugpas zuviel mit anderen Schulen des Tibetischen Buddhismus zu tun hatte.) Auch in einem Text des 5. Dalai Lama namens Sangwa Gyachen wird die Angelegenheit erklärt, und aufgrund dieser Belege versuchte bereits der 13. Dalai Lama den Shugden-Kult in den Gelugpa-Klöstern einzuschränken. Nun hat sich auch der 14. Dalai Lama dieses Problems angenommen - und sich damit in Gelugpa-Kreisen Feinde gemacht.

Er selbst berichtet, daß er schon 1976 mit der Shugden-Verehrung völlig gebrochen habe, nachdem ihm klar geworden wäre, daß viele der Hindernisse für die Freiheit Tibets hier ihre Ursachen haben; er sagte, daß es durch die Verehrung Shugdens zu Konflikten mit Tibets Schützern Nechung und Dharmaraja gekommen sei. Aus diesem Grunde hatte er bereits in den siebziger Jahren alle Gelugpa-Lamas aufgefordert, zum Wohle Tibets mit dieser Praxis aufzuhören.

Da große Kreise seiner Aufforderung nicht nachgekommen waren, unternahm er im Frühling dieses Jahres eine erneute Offensive. Während einer großen Hayagriwa-Ermächtigung am 21. März 1996 sagte der Dalai Lama: „Ich habe neulich einige Gebete für das Wohlergehen unserer Nation und Religion gesprochen. Es wurde ziemlich klar, daß Dolgyal ein Geist der dunklen Kräfte ist. [...] Wenn einige unter euch hier vorhaben, weiterhin Dolgyal anzurufen, wäre es besser für euch, dieser Ermächtigung fernzubleiben, aufzustehen und diesen Platz zu verlassen. Es ist unpassend, wenn ihr weiterhin hier sitzt. Es wird euch nicht nutzen. Es wird im Gegenteil den Effekt haben, das Leben des Gyalwa Rinpoche [Dalai Lama] zu verkürzen, was nicht gut ist. Wenn es jedoch unter euch einige gibt, die hoffen, daß Gyalwa Rinpoche bald sterben wird, dann bleibt nur."

Bei einer anderen Gelegenheit sagte er: „Wenn es um die Interessen der tibetischen Nation geht, werde ich die von mir begonnene Arbeit zu Ende bringen. Ich werde nicht vor einigen wenigen verdrossenen Leuten zurückweichen. Ich bin fest entschlossen, die Konsequenzen aus meinen sorgfältigen Nachforschungen zu ziehen und werde es nicht einfach auf sich beruhen lassen."

Sowohl der Dalai Lama als auch seine Exilregierung machten mehrfach darauf aufmerksam, daß mit diesem Appell des Dalai Lama kein Zwang verbunden ist. Der Dalai Lama: „Die Öffentlichkeit sollte gründlich darüber informiert werden, damit sie selbst ein klares Verständnis der Situation entwickeln kann. Jeder ist jedoch völlig frei zu sagen: ‘Wenn die Sache Tibets und das Leben des Dalai Lama untergraben wird, sei es so. Wir haben religiöse Freiheit. Wir sind eine Demokratie. Wir sind frei, zu tun, was wir wollen. Wir werden an unserer Tradition der Verehrung Dolgyals nichts ändern."

Es scheint jedoch, daß einige der Anhänger des Dalai Lama bei der Umsetzung seiner Aufforderung etwas extrem waren; es sollen Anhänger Shugdens ihre Stellungen verloren haben, Mönche wurden aus den Klöstern geworfen, Häuser wurden durchsucht und Statuen zerstört. Wieviel von den Vorwürfen bezüglich dieser Vorfälle war ist, dürfte schwer zu klären zu sein.

Die Front gegen den Dalai Lama ist mittlerweile so massiv geworden, daß ein hoher Rinpoche diesen Sommer bereits die Schätzung äußerte, daß nur noch ungefähr ein Drittel der Gelugpa-Linie zum Dalai Lama steht - wobei es Hinweise dafür gibt, daß es eigentlich dabei um mehr geht als nur um die Shugden-Kontroverse.

Die offiziellen Widersacher des Dalai Lama sind die Shugden Supporters Community (SSC), die zu einer Vereinigung namens New Kadampa Tradition (NKT) gehört. Sie wurde in der englischen Presse als eine der am schnellsten wachsenden und wohlhabendsten Sekten Englands bezeichnet. Seit ihrer Gründung 1991 sei sie zur größten buddhistischen Organisation Englands gewachsen. Die New Kadampas sind eine Absplitterung der 1975 von dem berühmten Lama Yeshe und Zopa Rinpoche gegründeten Foundation for the Preservation of the Mahayana Teachings (FPMT). Einer der von Lama Yeshe in einem englischen Zentrum eingesetzten Geshes - ein früherer Klassenkamerad von Lama Yeshe, namens Kelsang Gyatso - stieg 1982 mit dem ihm anvertrauten Zentrum aus der FPMT aus. Er distanzierte sich sowohl von der Arbeit Lama Yeshes und seiner FPMT als auch vom Dalai Lama, unter anderem durch die öffentliche Fortführung der Shugden-Praxis. 1991 begründete Kelsang Gyatso die New Kadampas. In dieser Organisation wird er als der „dritte Buddha" (nach Buddha Shakyamuni und Tsongkhapa, dem Gründer der Gelupgpa-Linie) verehrt. Das Zeigen von Bildern des Dalai Lama und die Erwähnung seines Namens soll einem Bericht des The Independent zufolge dort verboten sein.

Die Shugden Supporters Community werfen dem Dalai Lama vor, daß er die „harmlose buddhistische Praxis" auf den erleuchteten Schützer Shugden für politische Zwecke mißbraucht; vier Millionen Praktizierende müssten unter seinen politischen Gelüsten leiden. Die Rechnung geht - laut The Independent - jedoch nicht auf: Es gibt sechs Millionen Tibeter; darunter gehören weniger als die Hälfte zur Gelugpa-Schule, in der diese Praxis ausgeübt wird. Innerhalb der Gelugpa können nur Mönche in diese Praxis eingeweiht werden und nicht alle Mönche sind es tatsächlich. Die Kontroverse betrifft höchstens 100.000 Leute, von denen ja auch nicht alle den Ratschlägen des Dalai Lama gegenüber verschlossen sind.

Ein Reporter des The Independent fragte Kelsang Gyatso, warum die New Kadampas sich überhaupt über die Aufforderung des Dalai Lama aufregen, da sie doch sowieso eine eigenständige Organisation sind, die in keiner Weise den Ratschlägen des Dalai Lama folgen muß. Die Antwort: „Wenn der Dalai Lama recht hat, dann waren die letzten 20 Jahren mit dieser Praxis umsonst, alles umsonst; Zeit verschwendet, Geld verschwendet, alles."

Vielleicht hat der Geshe recht. Der Dalai Lama: „Diejenigen welche uns Schutz und Reichtum für nur dieses Leben geben können - seien es Menschen, Götter, Nagas oder in den Bergen lebende Schützer und so weiter - verdienen allesamt unser Mitgefühl. Es gibt keinen Grund dafür, sie zu verehren. Zu ihnen Zuflucht zu nehmen, ist eine Schande für die Gelug-Tradition. Es ist eine Schande, zu solchen Wesen Zuflucht zu nehmen und nicht den Nutzen des sechsarmigen Mahakala und von Dharmaraja zu erkennen. Diese sind wertvolle, anerkannte Schützer der immens kostbaren Lehren von Je Tsongkhapa."

The Independent: „In den verwirrten und turbulenten 40er-Jahren vor der chinesischen Invasion, hing der Shugden-Kult mit einem engen Gelugpa-Parteigeist und einer Politik zusammen, die die Interessen Zentraltibets über alles andere erhob. Indem der Dalai Lama sich gegen diesen Kult wendet und versucht, ihn in seinen Klöstern zu unterdrücken, macht er nicht nur eine theologische, sondern auch eine politische Feststellung: Daß der von ihm angestrebte tibetische Staat nicht eine Form des Buddhismus einer anderen gegenüber bevorzugen wird."


Detlev Göbel
Jahrgang 1960, seit 1984 Buddhist und Schüler von Lama Ole Nydahl, Reiselehrer und Redakteur der "Buddhismus Heute".