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BUDDHISMUS HEUTE
Aus: Buddhismus Heute Nr. 16, ( 1994)

Der Lama - die Wurzel des Segens

Von Jamgön Kongtrul Rinpoche

Die buddhistische Lehre kann in den Sutra- und den Tantraweg unterschieden werden, wobei sich der Sutraweg auf die Ursachen und der Tantraweg auf die Frucht stützt. Bei beiden geht es darum, daß man - um den Zustand der Befreiung zu erlangen - einen Weg verwendet, der dazu führt, daß man sich von dualistischer Auffassung befreit.
Auf dem Sutraweg wird zuerst untersucht, was die Ursache der dualistischen Auffassung ist. Man findet heraus, daß die Wurzel dafür das Haften an einem 'Ich' ist, unsere Unwissenheit. Man untersucht dann weiter: Woher kommt diese Auffassung? Was ist die Essenz des Haftens am Ich? Was sind seine Merkmale? Was bewirkt es? usw. Man kommt schließlich zu dem Schluß, daß die eigene Identität nicht wahrhaft existent ist.

Auf dem Sutraweg geht man davon aus, daß wir uns jetzt in einem leidvollen Zustand befinden und sucht nach der Ursache dieses Leidens. Man stellt fest, daß diese Ursache verschiedene Handlungen sind, die man früher getan hat. Dann fragt man weiter, wie es zu diesen Handlungen und dem daraus entstandenen Karma kam und findet als Ursache die störenden Gefühle, die wiederum infolge unserer dualistischen Auffassung und unseres Haften am Ich entstehen. Man kommt so zu dem Punkt, daß man das Haften am Ich als Ursache all unseres Erlebens erkennt.

Auf Basis dieses Verständnisses folgt man dem Sutraweg, indem man vor allen Dingen mit Körper und Rede die Regeln der Disziplin einhält, andererseits auch zu einem Verständnis der gegenseitigen Abhängigkeit aller Dinge und ihrem Freisein von wahrhafter Existenz kommt, und sich drittens um eine wohlwollende Einstellung anderen Wesen gegenüber bemüht.

Auf dem Sutraweg geht man also so vor, daß man die Dinge untersucht, die Ursachen erforscht und auf Basis des so entstehenden Verständnisses verschiedene Methoden anwendet. Man gelangt dadurch zu dem Punkt, wo man frei von Leid wird; man erreicht Befreiung und auch den Zustand der Allwissenheit. Der Weg dauert jedoch sehr lange, und es heißt, daß man auf dem Bodhisattvaweg drei unendlich lange Kalpas bis zur Buddhaschaft braucht.

Auf dem Tantraweg, dem Vajrayana, geht man ganz anders vor. Man untersucht nicht die Ursachen, sondern arbeitet direkt mit den eigenen Erfahrungen. Wenn zum Beispiel störende Gefühle aufkommen, so untersucht man nicht ihre Ursachen, sondern erlebt sie direkt und kommt dahin, daß man sie umwandeln kann. Deswegen sagt man, daß dieser Weg mit der Frucht arbeitet und damit ein sehr schneller Weg ist.

Die Frucht, die durch beide Wege erlangt wird, ist ohne Unterschied genau die gleiche: Man wird vom Leid befreit und die inneren Störungen lösen sich wie von selbst auf; man erlangt Verwirklichung. Der Unterschied zwischen den beiden Wegen liegt nur in der Art und Weise, wie man jeweils praktiziert.

Der Tantraweg geht von anderen Voraussetzungen aus als der Sutraweg: Da man ohne Untersuchung der Ursachen der Störungen direkt mit ihnen arbeitet, ist der Weg nur für Schüler mit höchsten Fähigkeiten geeignet. Auf der anderen Seite heißt es auch, daß der Weg für die Leute mit den stärksten Störgefühlen in dieser degenerierten Zeit geeignet ist. Der Grund dafür ist, daß solche Personen nicht die Geduld haben, über lange Zeit Verdienst anzusammeln und den Bodhisattvaweg zu üben. Sie schaffen das einfach nicht. Wenn man aber den Tantraweg wirklich praktizieren kann und es schafft mit den Störungen im Geist umzugehen, ist es ein sehr schneller Weg. Allerdings wird man nicht in nur zwei, drei Tagen oder Jahren Buddhaschaft erlangen.

Es heißt immer, daß es im Vajrayana darum geht, unreine Erfahrungen und Erscheinungen auf eine reine Ebene zu bringen. Man sollte das aber nicht so verstehen, daß diese Umwandlung darin besteht, daß man nur denkt oder glaubt, die Dinge seien rein. Es geht vielmehr um eine tatsächliche Umwandlung. Um dazu fähig zu sein, braucht man die 'Drei Wurzeln' oder Quellen des Segens, der Errungenschaften und der Aktivität. Die Wurzel des Segens ist der Lama, die Wurzel der Errungenschaften (Siddhis) der Yidam, und die Wurzel der Aktivität sind die Dharma-Schützer. Der Lama ist die wichtigste der Drei Wurzeln - Yidam und Schützer sind Manifestationen des Lama. Es gibt keinen Yidam oder Schützer, der vom Lama getrennt wäre. Aus diesem Grund ist der Lama im Vajrayana von ganz besonderer Bedeutung.

Um das zu verstehen, ist es gut noch einmal den Sutraweg zu betrachten: Man stützt sich hier auf einen Lehrer oder spirituellen Freund als jemanden, der einem den Weg zeigt, den man dann entsprechend dieser Erklärungen praktiziert, so daß man die verschiedenen Bodhisattvastufen und fünf Pfade durchläuft.

Im Vajrayana hat der Lehrer eine viel wichtigere Bedeutung: Man sieht ihn nicht nur als jemanden, der einem den Weg zeigt, sondern als den Buddha selbst. Diese Einstellung bewirkt, daß der Segen des Lama direkt in den eigenen Geist eintreten und dadurch den Geiststrom heranreifen lassen und erwecken kann. Um das zu ermöglichen, sind zwei Elemente nötig: Einerseits, daß man praktiziert und andererseits, daß man dem Lama gegenüber diese Offenheit hat und ihn als wirklichen Buddha sieht.

Auf dem Sutraweg geht man sehr bewußt mit den eigenen Handlungen um. Man bemüht sich, keine negativen Handlungen mehr auszuüben und nur noch Gutes zu tun. Da man jedoch immer von der eigenen Unwissenheit 'begleitet' wird und verschiedene Störungen hat, gelingt einem das nie vollständig und man tut doch immer wieder Negatives. Der Sutraweg dauert so lange, weil das Streben nach Positivem und die Störungen im Geist, die einen zu negativen Taten bewegen wollen, ständig miteinander ringen.

Auf dem Tantraweg kommt jedoch noch ein anderes Element hinzu, das mit dem Lama zusammenhängt: In der wahren Natur unseres Geistes ist ja keinerlei Verwirrung zu finden; nur die Art und Weise unseres derzeitigen Erlebens ist von Verwirrung geprägt. Wenn wir uns voll Vertrauen für den Lama öffnen und dadurch seinen Segen bekommen, wird unser Geist zur Reife geführt. Damit ist gemeint, daß wir kraft des Segens fähig sind, die wahre Natur unseres Geiststroms zu erkennen. Deswegen ist der Lama - die Wurzel des Segens - im Vajrayana so wichtig und wird auch als die 'Erste Wurzel' bezeichnet.

Um den Segen wirklich zu bekommen, sind verschiedene Dinge notwendig: Zum einen muß man vollkommenes Vertrauen und vollkommene Hingabe zum Lama entwickeln. Das bezieht sich jedoch nicht auf jeden Lama, sondern auf denjenigen, bei dem man sich nach genauer Untersuchung der verschiedenen Lehrer ganz sicher geworden ist, daß man vollkommenes Vertrauen zu ihm haben kann. Zum anderen sollte auch der Lehrer den Schüler untersuchen, um sicher zu sein, daß er fähig ist, diesem auch wirklich zu helfen.

Wenn man Gewißheit darüber erlangt hat, daß man zu einem Lama diese vollkommene Offenheit entwickeln kann, sollte man unerschütterliches Vertrauen zu ihm entstehen lassen. Es sollte wirklich unerschütterlich und unzerstörbar wie ein Diamant werden. Ist man dazu in der Lage, so bewirkt das, daß man nicht mehr von allgemeinen Gedanken beeinflußt und gestört wird. Diese Unerschütterlichkeit des Vertrauens ist auch der Grund für den Namen 'Vajrayana', Diamantfahrzeug, denn es ist - wie ein Diamant - unzerstörbar.

Viele Leute glauben irrtümlicherweise, daß kein Unterschied zwischen Vajrayana-Lehrern und anderen Lamas besteht. Ein normaler Lehrer kann einem in vollkommen reiner und klarer Weise den Weg aufzeigen und erklären, wie man sich verhalten sollte, wie die Dinge beschaffen sind usw. Ein Vajrayana-Lehrer ist hingegen jemand, der nicht nur mit Worten wirkt und lehrt, sondern auf allen Ebenen. Er kann durch körperliches Verhalten, durch verbale Belehrungen und durch die von seinem Geist ausgehende Inspiration den Geiststrom anderer zur Reife und Befreiung führen. Nur jemand mit dieser Fähigkeit ist ein wirklicher Vajrayana-Lehrer. Aus diesem Grunde gibt es zwar viele normale Lehrer, aber nur wenige, die im Vajrayana-Zusammenhang als Lehrer bezeichnet werden können.

Im Dorje-Chang-Gebet heißt es, daß Hingabe der Kopf der Meditation ist. Das bezieht sich auf die im Vajrayana zu entwickelnde Hingabe; eine Art von Hingabe die vollkommen ungekünstelt in einem erwacht, ohne daß man sie sich vormacht oder einbildet. Wenn sie im Geist entsteht, verschwinden durch den Segen des Lehrers die normalen Gedanken, und die Erfahrung von Meditation entsteht ganz von alleine, ohne daß man sich um Meditation bemühen muß. Dann kann die Inspiration von Körper, Rede und Geist des Lamas in einem selbst wirksam werden.

Von früheren Kagyü-Meistern gibt es das Zitat, daß die 'Vorbereitenden Übungen', das Ngöndro, tiefgründiger sind als alle anderen Praktiken. Diese Aussage bezieht sich weniger auf Verbeugungen, Diamantgeist und Mandala-Opferung als vielmehr auf Guru-Yoga, da man hier die Inspiration des Segens des Lamas erhält. Für die auf dem Ngöndro aufbauenden Praktiken wie Mahamudra, oder die Entstehungsphasen in Verbindung mit den Yidampraktiken, oder die Vollendungsphasen - die Sechs Yogas von Naropa -, ist es immer nötig, daß man den eigenen Geiststrom richtig vorbereitet. Dies geschieht durch den Segen, den man beim Guru-Yoga erfährt. Nur dadurch ist man in der Lage, unreine Erfahrungen auf eine reine Ebene zu führen und mit den erwähnten anderen Praktiken richtig umzugehen.

Die Hingabe, die man dem Lehrer gegenüber haben sollte, ist mehr als das Gefühl das man hat, wenn man einen bestimmten Lehrer sieht und dieser sich in angenehmer Weise einem selbst gegenüber verhält; wenn er einen anlächelt oder angenehm mit einem redet, entsteht vielleicht ein Gefühl von Hingabe, die man aber als das 'Aufkommen des Gefühls aufgrund verschiedener Bedingungen' bezeichnet. Die angestrebte Hingabe zum Lehrer hingegen ist ein tiefes inneres Gefühl, das unabhängig von solchen äußeren Bedingungen ist. Am Anfang ist es natürlich noch von äußeren Dingen abhängig, aber dann wird es zu einem inneren Gefühl, das unabhängig von äußeren Umständen und momentanen Erlebnissen wach wird. Erst wenn diese ganz tiefe Hingabe und dieses unerschütterliche Vertrauen entstanden sind, wirkt sich der Segen so aus, daß allgemeine Gedanken und dergleichen von selbst zur Ruhe kommen. Es gibt Beschreibungen über die Zeichen dieser Hingabe: Tränen treten in die Augen und die Körperhaare stellen sich auf. Aber dafür ist es notwendig, daß man zu diesem Lama eine viele Lebenszeiten alte Verbindung hat; nur in einem einzigen Leben läßt sich das nicht aufbauen.

Nur wenn man den ungekünstelten Segen erhält, ist man auch in der Lage, die ungekünstelte wahre Frucht, die letztendlichen Errungenschaften, die höchsten Siddhis, zu verwirklichen. Wenn man verkrampft versucht, ein künstliches Gefühl von Hingabe und Vertrauen aufzubauen, wird auch der Segen und die Inspiration nur eingebildet und gekünstelt sein, und ebenso die Frucht. Die Lehrer selbst sind ja einfach Menschen: Sie haben einen Körper, haben mal gute und mal schlechte Stimmungen, sind mal zornig und mal traurig usw. Ohne wirklich tiefes Vertrauen und unerschütterliche Hingabe wird man von diesen Dingen beeinflußt und verunsichert. Man wird sich wundern, daß die Meditationserfahrung heute nicht so tief ist wie gestern; man wird schwankend und unsicher in seinen Einstellungen. Das alles kommt daher, daß Hingabe und Vertrauen noch nicht wirklich unerschütterlich sind.

Wenn es heißt, daß es darum geht, die höchsten Errungenschaften zu erlangen, so ist das nicht etwas Äußeres oder Neues, was man sich aneignet, sondern die Verwirklichung der Natur des eigenen Geistes. Man hat die höchsten Errungenschaften erreicht, wenn man frei ist von allen momentanen sich ändernden Zuständen und Bedingungen, und wenn man den Geist, so wie er ist, verwirklicht hat.

Was ist Segen?
Es ist die Fähigkeit, den Geiststrom anderer Wesen zur Reife zu bringen, sie zu befreien. Segen hat keine Form, kein bestimmtes Symbol des Ausdrucks, obwohl im Zusammenhang mit Ermächtigungen verschiedene symbolische Gegenstände verwendet werden. Der eigentliche Segen ist, daß man frei ist von der Auffassung, daß man einen Segen erhält und daß jemand den Segen gibt. Das ist die letztendliche Ermächtigung und der wirkliche Segen. Alles andere sind nur Symbole und Beispiele für das Erhalten des Segens.